Kirche sollte ein Safe Space sein. Sicher für alle Mitglieder, egal welchen Geschlechts, Herkunft oder Alters. Und doch ist sie es nicht. Jahrzehntelang hat sie es Täter:innen leicht gemacht in ihren Räumen und ihrem Schatten Schutzbefohlene zu missbrauchen.
Die aktuelle ForuM-Studie zum sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche und Diakonie zeigt: Verantwortliche in der Kirche schweigen. Kolleg:innen in der Kirche schauen weg. Vorgesetzte in der Kirche decken. Systematisch haben Menschen in der evangelischen Kirche in den 75 Jahren seit Kriegsende sexuellen Missbrauch klein geredet.
Was das Forscherteam von unabhängigen Universitäten und Instituten herausgefunden hat, ist, dass die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und Diakonie Deutschland noch ganz am Anfang bei Transparenz und Aufarbeitung rund um das Thema sexualisierter Gewalt und Missbrauch stehen. Die Studie belege ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt. Sie spricht von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Täter:innen. Viele Betroffene waren bei einem Erstkontakt jünger als 14 Jahre. Und die Dunkelziffer ist vermutlich noch viel größer.
Dabei ist es egal, ob die jeweilige Gemeinde oder Landeskirche eher konservativ oder liberaler geprägt ist. Missbrauch gibt es überall.
Den Anstoß zur Aufarbeitung hat „Mutter Kirche“ nicht selbst gegeben: Betroffene schreiten mutig voran und wagen sich seit 14 Jahren in die Öffentlichkeit. Dank des Engagements von Betroffenen, wie Detlev Zander, Matthias Schwarz, Katharina Kracht oder Nancy Janz und vielen weiteren entsteht der Druck, das sich die Institution Kirche bewegt.
Sich langsam bewegt. Denn lange hat sich die evangelische Kirche hinter der katholischen Kirche quasi versteckt. Es gäbe zwar „Einzelfälle“, aber es sei ja alles ganz anders. Eine Kirche, die einen breiten demokratischen Aufbau hat, könne kein solches Machtgefälle begünstigen, das mit Missbrauch einhergeht.
Erst 2018 hat die EKD Missbrauch zum Top-Thema gemacht. Und seither geht es in Tippelschritten voran. Immerhin. Die Betroffenen sollen sich beteiligen, aber bis man sich darüber einig ist, wie genau, ziehen wieder dreieinhalb Jahre ins Land. Bis das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt gegründet wird. Noch einmal eineinhalb Jahre später gibt es erst die sogenannte Gemeinsame Erklärung zwischen EKD, Diakonie und der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Hier werden erstmalig verbindliche Richtlinien für die Landeskirchen und Diakonien formuliert.
Bis dahin tut sich tatsächlich was in den 20 Landeskirchen. Bei den einen geht es schneller, bei den anderen langsamer. Die Betroffenen kritisieren weiterhin den Flickenteppich, dem sie sich gegenübersehen. Zu Recht. Hier noch eine Anlaufstelle und noch ein Beirat, da noch eine Fachstelle und dann doch ein Erstkontakt von Betroffenen mit Menschen, die vom schwierigen Thema heillos überfordert sind. Dazu noch die föderalen Strukturen der Landeskirchen.
Das jüngste Beispiel war der Rücktritt von Annette Kurschus als EKD-Chefin. Die Frau, die als Ratsvorsitzende den Kampf gegen Missbrauch zur Chefinnensache erklärt hatte, hat geschwiegen. Und ist auch nicht aus Reue zurückgetreten, sondern weil sie ihrer Kirche keinen Schaden zufügen wollte.
Jetzt kommt es darauf an, dass die Verantwortlichen in den Kirchen die Ergebnisse der Studie ernst nehmen, dass sie verstehen, welche ihrer Strukturen Missbrauch möglich machen, ihn vielleicht sogar begünstigen.
Missbrauch in der evangelischen Kirche - was dauert da so lang?