von Franziska Hein
Der Hamburger Kirchenhistoriker Thomas Großbölting hat an Missbrauchs-Studie ForuM mitgeschrieben. Darin geht es um sexuelle Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie.
In der ForuM-Studie macht der Forscher spezifische evangelische Risikofaktoren für Missbrauch aus. Dazu zählen etwa das unklare Verhältnis zu Macht und Ämtern bei evangelischen Pfarrpersonen oder das Selbstbild einer Kirche der Geschwisterlichkeit und demokratischer Mitbestimmung.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Thomas Großbölting: Bei der Aufarbeitung und der Prävention muss man schon auf die jeweils spezifischen Risikofaktoren schauen.
Im Protestantischen scheint die formale Weihe nicht der ausschlaggebende Punkt zu sein, sondern eher die Einbindung in die Institution und die besondere Herausgehobenheit des Pfarrers.
Bei der Vorstellung der ForuM-Studie haben Sie gesagt, für Sie seien die Ergebnisse eine Anfrage an den Protestantismus, der die individuelle Verantwortung der Gläubigen ins Zentrum gerückt hat.
Thomas Großbölting: Die Kirchen der Reformation entstehen aus dem Impuls, die Freiheit des Christenmenschen zu betonen und den oder die Einzelne aus der Hierarchie der Kirche und aus den besonderen Gehorsamsstrukturen der alten Kirche zu befreien. Das wäre auch ein „Rezept“ gegen Machtmissbrauch in pastoralen Zusammenhängen, damit der Geistliche sich durch seine Stellung nicht überhöhen kann und nicht diese Abhängigkeiten schafft.
Das scheint in der protestantischen Kirche aber ebenso wenig zu greifen wie die weitgehende Gleichstellung von Frauen und Männern in der Kirche. Auch im Protestantischen ist es so, dass zu einem sehr hohen Prozentsatz Männer als Missbrauchstäter in Erscheinung treten, seien es Geistliche oder andere Mitarbeiter. Der Kulturwandel in der Gleichstellung von Frauen und Männern schlägt somit nicht wirklich durch. Und daraus ergeben sich Anfragen an die Kirche insgesamt oder auch an die Landeskirchen, denen sie sich meines Erachtens stellen müssen.
Kirchliche Schutzkonzepte sind so allgemein, dass sie auch in jedem Großunternehmen greifen könnten.
Bislang, so mein Eindruck, wird viel über Schutzkonzepte gesprochen, ohne dabei die spezifische Konstellation von Macht in den Blick zu nehmen. Die Schutzkonzepte sind so allgemein, dass sie auch in jedem Großunternehmen oder an der Universität greifen könnten.
Das Spezifische im Kirchenkontext aber scheint mir zu sein, dass dieses ungleiche Machtverhältnis im Kern durch ein besonderes Sprechen über Gott und durch eine besondere Organisierung des Lebens in dieser Glaubensgemeinschaft entstehen. Den religiösen Kern dieser Machtimbalance muss man treffen, um Prävention zu betreiben.
Betroffene wurden aus der Gemeinschaft ausgegrenzt.
In Ihren Fallstudien zeigt sich, dass es durchaus schon ein Wissen im Tatumfeld gab. Warum wurde Missbrauch dennoch nicht verhindert?
Thomas Großbölting: Es gab in vielen Fällen ein bewusst implizites Wissen in den Gemeinden.
In der Alltagssituation ist das leicht zu erklären. Implizites Wissen bedeutet, dass Menschen in der Regel zwar ahnen, was passiert, dass sie Gerüchte hören, aber ihnen diese Uneindeutigkeit den Mut nimmt, ihre Beobachtungen öffentlich zu machen. Das Weggucken wird befördert durch den Wunsch, die Geschwisterlichkeit in der Glaubensgemeinschaft nicht zu stören.