Digitaler Nachlass

Wenn Mama stirbt…: Familienhörbuch am Lebensende

Zwei Frauen mit zwei Mikrofonen zeichnen ein Gespräch auf
gettyimages/South_agency

Wenn Eltern ihre Kinder nicht großziehen können, ist das Familienhörbuch ein wertvolles Erbe. Wir haben mit einer Mutter über ihr Buch gesprochen.

von Juliane Eberwein

Eine unheilbare Diagnose ist immer ein Schock. Die Vorstellung, frühzeitig aus dem Leben zu scheiden ist vor allem für junge Eltern und ihre Kinder schwer zu ertragen. Um die Erinnerung an Mama oder Papa lebendig zu halten, wurde das Projekt „Familienhörbuch“ ins Leben gerufen. Es ermöglicht betroffenen Eltern, für ihre minderjährigen Kinder ein ganz persönliches Hörbuch zu produzieren und ihnen somit ihre Geschichte und ihre Stimme zu hinterlassen.

Abschiedsgeschenk von totkranken Eltern

Nadja Seipel (steht links) und Carmen Dreyer stehen an einem Tisch.
Evangelisches Medienhaus
Nadja Seipel (links) und Carmen Dreyer

Im Podcast „Alpha & Omega“ haben Krebspatientin Nadja Seipel und Projektmitarbeiterin Carmen Dreyer erzählt, wie so eine Aufnahme abläuft. Erst im vergangenen Jahr hat Nadja Seipel ihr persönliches Hörbuch für ihre Tochter Annabell aufgenommen. „Als ich 2015 die Diagnose Brustkrebs bekam, war das ein absoluter Schock. Ich fühlte mich fit und trainierte sogar für einen Marathon. Es war eine Zeit, in der die Welt stillzustehen schien.“

Krebspatientin Nadja Seipel über ihren Krebs

Die Diagnose traf nicht nur sie, sondern auch ihre Tochter Annabelle, die damals gerade fünf Jahre alt war. „Wir haben ihr natürlich nicht gesagt, dass ich Krebs habe. Für ein so kleines Kind ist dieser Begriff noch schwer zu verstehen. Als mir die Haare ausfielen durch die Chemo haben wir ihr erklärt, dass Mama krank ist und mein Körper all seine Kraft braucht, um gegen die Krankheit zu kämpfen. Und sie fand es völlig logisch. Wir schlossen sogar eine Wette ab, wer schneller lange Haare bis zum Ellenbogen haben würde, wenn meine wieder nachwachsen.“

Doch 2020, nach fünf Jahren ohne Krebs, kehrte die Krankheit zurück. „Ich bemerkte, dass es mir stetig schlechter ging. Ich hatte Atemprobleme, selbst beim Treppensteigen. Ich schob es zunächst auf eine Erkältung oder eine mögliche Allergie. Doch als ich im Januar 2021 kaum noch Luft bekam, wusste ich, dass etwas Ernsthaftes nicht stimmte.“

Der Krebs ist zurück

Eine Operation folgte, bei der aus ihrem Oberkörper 3,7 Liter Flüssigkeit entfernt wurden. „Es war eine Zeit der Angst und Unsicherheit“, erzählt Nadja Seipel. „Allein im Krankenhaus zu liegen, mit der Diagnose Pleuraerguss, bei der man statistisch gesehen nur noch vier bis sechs Monate zu leben hat, war psychisch sehr belastend. Die Gedanken an meinen letzten Wunsch und die Zukunft meiner Tochter waren überwältigend.“

Nadja Seipel zu Gast beim Podcast „Alpha & Omega“
Evangelisches Medienhaus

Die Aufnahme für das Familienhörbuch im März 2023 war für Nadja Seipel eine emotionale Reise in die Vergangenheit. „Es war kräftezehrend und aufregend zugleich“, erinnert sie sich. „Ich wollte meiner Tochter so viel von mir hinterlassen, von meiner Kindheit bis zum jetzigen Zeitpunkt. Ich habe mit Familienmitgliedern gesprochen und alte Fotoalben durchgesehen. Es war eine intensive Zeit der Reflexion und des Erinnerns.“

Erinnerungen über den Tod hinaus bewahren

Das Familienhörbuch-Projekt, ins Leben gerufen von Judith Grümmer, einer erfahrenen Journalistin, hat das Ziel, betroffenen Familien eine Möglichkeit zu geben, ihre Geschichten aufzuzeichnen und so Erinnerungen zu bewahren.

Welches Kapitel Nadja Seipel beim Familienhörbuch besonders Spaß gemacht hat

„Wir sind zu 100 Prozent durch Spenden finanziert“, erklärt Carmen Dreyer. „Deshalb müssen wir uns an strenge Regeln halten und transparent darlegen, wie die Spenden verwendet werden.“ Sie erklärt die Auswahlkriterien wie folgt:

  • Eltern müssen lebensverkürzend erkrankt sein
  • mindestens ein minderjähriges Kind haben
Carmen Dreyer vom Projekt Familienhörbuch
Evangelisches Medienhaus

Die Aufnahmen für das Familienhörbuch können ganz unterschiedlich ablaufen. „Ein Erstgespräch dient dazu, die Bedürfnisse der Familie zu klären“, sagt Carmen Dreyer. „Einige Familien möchten die Aufnahmen zu Hause machen, während andere lieber ins Tonstudio kommen. Wir wollen, dass der Prozess für die Familien so angenehm wie möglich ist.“

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Eine sogenannte „Audiobiografin“ (Männer gibt es auch, aber meist sind es Frauen) hilft den Müttern und Vätern beim Erinnern. Mit gezielten Fragen führt sie sie durch ihr Leben und ermutigt die Eltern, die Geschichten so zu erzählen, als würden ihnen ihre Kinder direkt gegenübersitzen.

Welche Geschichten die Eltern erzählen, ist individuell und teilweise sehr unterschiedlich. Ein paar Kapitel gibt es aber fast in jedem Hörbuch:

  • die Geburt des Kindes
  • das Kennenlernen der Partnerin oder des Partners
  • wie es war, die schlimme Diagnose zu bekommen

Die Arbeit an einem Familienhörbuch erfordert viel Zeit und Engagement. „Es fließen etwa 100 Stunden Arbeit in jedes Hörbuch“, betont Dreyer. „Es ist eine intensive Zeit, in der die Familien sich mit ihrem Leben auseinandersetzen. Doch die Ergebnisse sind es wert. Die Geschichten, die sie hinterlassen, sind ein kostbares Erbe für ihre Kinder.“

Nadja Seipels Hörbuch ist sechs Stunden lang geworden. Über mehrere Vormittage hinweg hat sie es mit ihrer Audiobiografin eingesprochen. Ein Sounddesigner hat zu jedem Kapitel ihre passende Lieblingsmusik hinzugefügt, es gibt es Vor- und ein Schlusswort. Wie bei jedem anderen Hörbuch - nur dass dieses persönlicher nicht sein kann.

Was das Familienhörbuch Nadja Seipel bedeutet

Das Projekt „Familienhörbuch“ wird auch wissenschaftlich begleitet, um die Auswirkungen auf die Familien zu erforschen. „Wir wollen verstehen, wie sich das Projekt auf die Trauerbewältigung und die Entwicklung der Kinder auswirkt“, erklärt Dreyer. „Es ist wichtig, dass wir die Bedürfnisse der Familien verstehen und sie bestmöglich unterstützen können.“

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Die Resonanz auf das Familienhörbuch-Projekt ist durchweg positiv. „Die Eltern fühlen sich erleichtert, dass sie etwas Bleibendes für ihre Kinder hinterlassen können. Und die Kinder sind dankbar für die Möglichkeit, die Stimme ihrer Eltern immer wieder hören zu können“, freut sich Carmen Dreyer.

Für Nadja Seipel war das Familienhörbuch ein Geschenk an ihre Tochter Annabelle. „Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, aber ich möchte sicherstellen, dass Annabelle mich nie vergisst“, sagt sie. „Das Familienhörbuch ist eine Erinnerung daran, dass ich immer bei ihr bin, egal was passiert.“