Wenn Kinder tot zur Welt kommen

Kraft aus Tod und Trauer: Die Arbeit mit Sternenkindern

Helga Schmidtke ist Sternenkindbestatterin
Ingo Winkelströter

Helga Schmidtke leitet das Sternenkinderzentrum im Odenwald. Der Verein begleitet trauernde Familien von Kindern, die nicht leben durften.

von Hendrik Hübner

„Das Patientenzimmer war leer, die Eltern entlassen und das Kind in der Pathologie. Das hat sich für mich falsch angefühlt.“ Vor zehn Jahren arbeitete Helga in der Schulmedizin, von Sternenkindern hatte sie bis dahin noch nie gehört.

Bis sie 2015 erstmals eine Sternenkindfotografin zu einem Einsatz begleitete. „Ich habe eine Situation vorgefunden, die mir ein ganz komisches Bauchgefühl gemacht hat.“ Da wurde für sie sichtbar: Es gibt kein Bewusstsein für das Thema. 

Als Sternenkind bezeichnet man Kinder, die während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt versterben. Ein Schicksalsschlag für die Eltern, aber auch für Angehörige.

Anlaufstellen für Sterneneltern

Helga recherchierte nach Anlaufstellen für Betroffene von verfrühtem Kindesverlust – erfolglos. Das war ihr Impuls, selbst tätig zu werden: Rahmenbedingungen schaffen, damit Betroffene zusammenkommen können. „Dann habe ich selbst eine Ausbildung konzipiert“. Seitdem ist Helga Schmidtke selbsternannte Sternenkindbestatterin. Dabei gehe es nicht nur um die Bestattung an sich.

Begleitung für Eltern von Sternenkindern

Das Team um Helga ist ab der Diagnosestellung, über die Geburt und Bestattung bis zur Trauerbegleitung präsent. „Ein Netzwerk zu bilden, das sich um die Familie spannt und trägt, ist das A und O“, sagt Helga Schmidtke. Das Hauptaugenmerk liegt aber auf der persönlichen Trauerbegleitung der Familien. „Was wir machen: Die Trauer, wenn sie dran ist, ins Zentrum holen. Wir gehen aktiv in Gespräche und die Situation der Menschen.“

Hier finden Betroffene Hilfe

📲 Hilfe im Rhein-Main-Gebiet: Verein „Unsere Sternenkinder Rhein Main“
📲 Der Verein hat auch eine Infomappe mit allen Angeboten (PDF) im Rhein-Main-Gebiet
📲 Im Sternenkinderzentrum Odenwald e.V. gibt es z. B. wechselnde Treffs und Angebote für Betroffene

Betroffene Familien sollten immer Hilfe suchen und der Trauer Raum zugestehen: „Möglichst alle im Familiensystem sollten das Kind kennenlernen. Ich kann nur um etwas trauern, wenn ich es kenne. Sonst bleibt es eine Imagination“, findet Helga. 

Verein für Sternenkinder

Bevor sie 2015 erste Kurse anbot, war sie unsicher, ob ihr Angebot überhaupt wahrgenommen wird. „Plötzlich war der erste Kurs voll, dann der zweite und dritte. Dass der Verein so wächst, war nicht gedacht. Inzwischen sind wir jeden Tag unterwegs und machen Hausbesuche wie Hebammen.“ Neben der privaten Betreuung finden in regelmäßigen Abständen gemeinsame Gottesdienste oder Trauergruppentreffen statt.

Psychische Belastung bei Trauerbegleitung

Auch Helga benötigt manchmal Seelsorge. Wenn die hohe psychische Belastung des Jobs zu viel zu werden droht, wendet sie sich an einen befreundeten Kaplan. Dieser hilft ihr mit denselben Mitteln, mit denen sie arbeitet – viel Empathie und Kommunikation. Obwohl die Trauerbegleitung emotional anstrengend ist,  bezeichnet Helga Schmidtke die Arbeit als ihre „Kraftquelle“.

Ihr Berufswechsel drehte Helgas Leben auf links. „Wir brauchen so wenig. Aus dem Leben vor meiner Arbeit ist nichts mehr übrig. Alles, was ich noch aus der Zeit noch habe, sind meine Kinder und Freunde.“ Neben diesem Bewusstsein bleibt für sie vor allem eines: „Die Dankbarkeit und Demut vor diesem Leben und dieser Schöpfung. Es ist so groß und gewaltig.“

Tabus und Kritik: „Sternenkinder und Trauernde haben ein Recht auf Sichtbarkeit“

Offizielle Statistiken zu Sternenkindern

► 3.007 Totgeborene im Jahr 2023
► frühe Schwangerschaftsverluste und Abtreibungen bleiben in diesen Statistiken (meist) unerwähnt
► die Definition ‚Sternenkind‘ ist Ländersache und nach unterschiedlichen Faktoren juristisch reguliert
► laut Gesetzentwurf greift Mutterschutz erst ab der 25. Schwangerschaftswoche

In der Tabuisierung von Tod und Trauer sieht Helga ein allgemeingesellschaftliches Problem. „Wir sind überfordert mit dem Thema Tod und fürchten eine Auseinandersetzung.

Tote Kinder setzen nochmal eins oben drauf – aber diese Ansicht ist Unsinn“. Eltern würden dadurch einem in der Trauer instabilen Familienumfeld ausgesetzt. Zudem fühlen Eltern sich in ihrer Trauer unberechtigt, wenn von außen ein System Druck ausübt, schnellstmöglich zum Alltag zurückzukehren. 

Keine Tabus für Sternenkinder

Um das zu ändern, fordert Helga neben der Enttabuisierung eine stärkere Vernetzung von Institutionen wie Kliniken, Geburtshäusern, Seelsorge- und Palliativteams. Informationen über bestehende Hilfsangebote müssen direkt an die betroffenen Familien gelangen: „Wenn die Basis nicht informiert ist, bleibt den Familien nur das aktive Suchen – und dafür fehlt in einer Trauersituation oft die Kraft“, so Schmidtke.

Außerdem bedarf es breiterer Öffentlichkeitsarbeit, denn: Die Betroffenen sind unterrepräsentiert. Dabei zeigen die Zahlen des statistischen Bundesamtes nur bedingt das Ausmaß.

Jede dritte Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben den Verlust eines Kindes. Die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und den Sternenkindzahlen kritisiert Helga Schmidtke scharf und weiß, dass die Dunkelziffer höher ist: „Die offiziellen Zahlen sind niedriger als die Einsätze der Sternenkindfotografen.  Zusätzlich stecken hinter jeder Zahl Betroffene und Angehörige. Das ist erschlagend!“

Sternenkind-Definition variiert

Wenn Kinder tot geboren werden unterstützt Helga Schmidtke die Angehörigen
Ingo Winkelströter
Helga Schmidtke ist Sternenkindbestatterin

Wie umgehen mit Betroffenen?

  • jede Familie hat individuelle Bedürfnisse
  • empathische und achtsame Kommunikation 
  • Wenn du nicht weißt, wie du helfen kannst, oder es ansprechen sollst, kommuniziere das ehrlich.
  • Das Sternenkind akzeptieren. Es ist verstorben, nicht verschwunden. Das Sternenkind gehörte ebenso zur Familie, wie andere Kinder.

Das Thema Sternenkinder stellt auf mehreren Ebenen ein Politikum dar. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung sieht Mutterschutz erst ab der 25. Schwangerschaftswoche vor. Auch die Bezeichnung ‚Sternenkind‘ variiert gesetzlich anhand verschiedener Faktoren. Das Recht auf Trauer an Kriterien wie Gewicht oder Größe eines Kindes zu knüpfen, findet Helga Schmidtke absurd: „Ein Kind ist ein Kind – da macht die Größe keinen Unterschied“, meint Helga. Hinzu kommen finanzielle Hürden.

Sie betont, dass Hospizarbeit und Sterbebegleitung bereits etabliert seien. Aber Trauerbegleitungseinrichtungen wie das Sternenkinderzentrum Odenwald müssten sich ausschließlich über Spenden finanzieren.

Ein Umdenken müsse stattfinden, um Sichtbarkeit, Fortschritt und weitere Hilfsangebote anzutreiben. „Wir werden nicht früh genug oder gar nicht gerufen. Solange nur eine betroffene Familie nicht weiß, dass es Institutionen wie uns gibt, haben wir noch viel Netzwerkarbeit zu machen“, fordert Helga Schmidtke.