Mehr als 3.000 Menschen leben in Hessen laut Diakonie-Angaben dauerhaft auf der Straße; Tendenz steigend. Zum Tag der Wohnungslosen am 11. September machen Hilfswerke auf die Situation von Wohnungslosen und Obdachlosen aufmerksam.
Wer wohnungslos ist, ist nicht gleich obdachlos. Viele wohnungslose Menschen leben bei Verwandten, Freund*innen oder in einer Notunterkunft. Sie haben keinen Mietvertrag oder keine eigene Wohnung. Obdachlose haben gar kein Dach über dem Kopf. Sie haben keinen festen Wohnsitz und leben oft auf der Straße. In Hessen gibt es mehr als 22.000 wohnungslose Menschen und schätzungsweise über 3.000 obdachlose Menschen.
Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind vielfältig, neben Altersarmut spielt auch der angespannte Wohnungsmarkt eine große Rolle.
Auch Achim Kaffenberger war über 30 Jahre lang obdachlos. Dank dem Kooperationsprojekt der Stadt Frankfurt, der Wohnungsbaugesellschaft und Diakonie Frankfurt und Offenbach mit dem Projekt „Housing First“ hat Achim seit 2022 wieder eine Wohnung.
Im Interview erzählt der 60-Jährige von Herausforderungen als obdachloser Mensch und wie es ist, wieder Mieter zu sein.
Wie ist es, auf der Straße zu leben?
Achim Kaffenberger: Ich hatte nach einer gewissen Zeit meine festen Abläufe. Irgendwann ist man gedanklich wie in einem Tunnel. Wo bekomme ich meinen nächsten Tagessatz her? Wo gibt es eine Essensausgabe? Ich habe Buch geführt über alle Anlaufstellen, um den Überblick zu behalten. Es war im Grunde immer purer Stress.
Mitte der 1990er Jahre kam das Schöne-Wochenende-Ticket von der Deutschen Bahn raus. Das habe ich genutzt, um in andere Städte zu fahren. Es gibt große Unterschiede, wie eine Stadt mit obdachlosen Menschen umgeht. Stuttgart und Esslingen zum Beispiel kümmern sich sehr gut. Frankfurt und das südlichen Rhein-Main-Gebiet haben ebenfalls sehr viele Angebote. Damit meine ich aber nicht die Behörden, sondern die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände. München dagegen kann ich niemandem empfehlen, der auf der Straße lebt.
Warum sind sie wohnungslos geworden?
Achim Kaffenberger: Ich habe 1990 meinen Beruf als Bäcker- und Konditor verloren. Aus gesundheitlichen Gründen, wegen einer Mehlallergie, konnte ich nicht weitermachen. Ich hatte dann das Problem, dass ich niemandem von meiner Krankheit, von der Situation erzählen konnte. Ich war Sonderschüler und schon immer ein Außenseiter.
Meine Eltern waren froh, dass ich untergekommen war. Also entschied ich mich, einfach weg zu gehen. Ich bin aus dem Odenwald, meiner Heimat, in die Obdachlosigkeit geflüchtet. Ich wollte einfach nur weit weg und bin dann erstmal in München gelandet.
Nach so vielen Jahren ohne feste Bleibe, ändert sich da die Lebenseinstellung?
Achim Kaffenberger: Naja, die Lebenseinstellung. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass meine Knochen das nicht mehr lange mitmachen werden. Ich hatte zunehmend starke Schmerzen. Auch wenn ich Notunterkünfte gemieden habe, musste ich doch irgendwas ändern.
Im Sommer 2021 war ich bei WESER5 in Frankfurt, eine Einrichtung der Diakonie. Die Leitung dort hat mir in einem Gespräch gesagt, dass ich eventuell bei einem neuen Wohnprojekt mitmachen könne. Das hörte sich gut an. Und obwohl man in der Notübernachtung nur maximal zehn Tage am Stück schlafen kann, blieb ich sechs Wochen. Direkt im Anschluss, im Oktober 2021, bin ich dann hier eingezogen. Erst in den 8. Stock. Da gab es aber Probleme mit der Wasserleitung. Deswegen bin ich jetzt hier im Erdgeschoss.
Sie haben in der ganzen Zeit keinen Alkohol und keine Drogen konsumiert. Wie haben Sie das geschafft?
Achim Kaffenberger: Das große Problem und auch häufig der Grund, warum Menschen auf der Straße landen, ist die Psyche. Psychische Probleme sind an der Tagesordnung. Ich war psychisch natürlich auch angeschlagen. Sonst wären aus meiner damaligen Flucht keine 30 Jahre auf der Straße geworden. Wenn man stabil ist, findet man andere Lösungen.
Mein Geld muss reichen, um zu überleben.
Sicherlich gab es Situationen mit anderen, in denen ich entscheiden musste, ob ich mitsaufe oder nicht. Es kam mir aber einfach nicht in den Sinn. Auch aus finanziellen Gründen. Der Alkohol- und Drogenkonsum ist ja teuer. Ich hatte immer im Kopf, dass mein Geld reichen muss, um zu überleben. Außerdem waren meine Eltern alkoholabhängig. Ich wollte nie so sein wie sie.
Leider ist es normal, dass Obdachlose stigmatisiert werden. Die Mehrheit der Leute hat das Bild von dreckigen, besoffenen und stinkenden Männern im Kopf. Mir hat man in der Regel nicht angesehen, dass ich auf der Straße lebe.
Gab es Höhepunkte in Ihrer Zeit als Obdachloser?
Achim Kaffenberger: In der Tat, ja. Beim Frühstück in der Liebfrauenkirche. Irgendwann an einem Mittwoch vor Weihnachten wurden Gutscheine im Wert von 50 Euro verteilt. Ich habe mir davon Schuhe gekauft. Dieses Paar Schuhe ist noch heute wahrer Luxus für mich.
Aber auch schon früher gab es solche Gutscheinaktionen. Ebenfalls in der Liebfrauenkirche. Da gab es noch den „Wiener Wald“ in Frankfurt. Wir konnten dann den Gutschein gegen ein Essen und ein Getränk einlösen. Das war ein richtiges Highlight. Und, was ich in all den Jahren und den vielen Städten nie erlebt habe, war ein Frühstück für 50 Cent. In der Liebfrauenkirche frühstücken zum Monatsende dann auch bis zu 170 Menschen an einem Tag.
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