Nazi-Vergangenheit

Was ein Pfarrer mit dem Eichmann-Prozess zu tun hatte

Pfarrer Giselher Pohl im Talar
privat

Massenmörder und Organisator des Holocausts: Adolf Eichmann entzog sich der Justiz. Wie ein Pfarrer dabei half, den Nazi-Verbrecher zu fassen.

Manchmal sind Kaffeekränzchen bedeutend. 2013 im März war das so. Sigrid Wobst war zusammen mit einem Vetter zu Besuch bei ihrer betagten Mutter Rosemarie Pohl in Soest. Beim Durchblättern eines Fotoalbums erinnerte sich die alte Dame an ein Stillschweigeabkommen hinsichtlich Adolf Eichmanns, an Fritz Bauer und eine Reise nach Israel.

Porträt von Sigrid Wobst
privat
Sigrid Wobst erfährt beim Kaffeetrinken, was ihre Eltern mit dem Eichmann-Prozess zu tun hatten.

Die Fotos zeigten Bilder einer ausgedehnten Israelfahrt 1962. Rosemarie und ihr Mann Giselher Pohl, ein evangelischer Pfarrer, reisten durch das kleine Land, trafen unter anderem Marc Chagall und besuchten Yad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte.

Tipp von Pfarrer Giselher Pohl an Nazi-Jäger Fritz Bauer

„Wie konntet ihr euch das denn leisten“, fragte der Vetter. Damals waren allein die Flugtickets für Normalsterbliche kaum erschwinglich.Der israelische Staat hat uns eingeladen, weil Giselher geholfen hat, Adolf Eichmann dingfest zu machen“, sagte Rosemarie Pohl lapidar.

Den beiden Gästen verschlug es die Sprache. Eichmann hatte die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Juden organisiert und war mitverantwortlich für die Ermordung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen. Er gilt als Architekt der „Endlösung“, war Israels Staatsfeind Nummer eins.

Eichmann-Prozess

Angeklagt des millionenfachen Mordes stand Adolf Eichmann im April 1961 vor dem Bezirksgericht in Jerusalem. Ein knappes Jahr vorher hatten drei Agenten des Mossad den ehemaligen SS-Obersturmbannführer aus Argentinien entführt. Im Dezember 1961 verkündete Richter Mosche Landau das Urteil: Tod durch den Strang.

Sigrid Wobst besuchte ihre Mutter kurz darauf noch einmal, mit einem Aufnahmegerät im Gepäck und vielen Fragen. Ihre Mutter habe sich gut und detailliert an alles erinnern können. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war damals schon länger auf Eichmanns Spuren. Bereits 1957 hatte ihm der deutsche Jude und KZ-Überlebende Lothar Hermann aus Buenos Aires geschrieben, dass der Nazi-Verbrecher dort lebe.

Porträt von Fritz Bauer
epd-bild/KEYSTONE/Klaus-Jürgen Roessler
Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) gehört zu den weniger bekannten Helden der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Foto ist von 1967.

Fritz Bauer informierte die israelische Regierung, denn er fürchtete, dass ein deutsches Auslieferungsbegehren Eichmann warnen würde. Doch Israels Geheimdienst Mossad hatte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen.

Und hier kommen Pfarrer Giselher Pohl und sein Freund Gerhard Klammer ins Spiel. Achtung, jetzt wird es ein bisschen kompliziert: Pohl und Klammer kannten sich aus der gemeinsamen Studienzeit in Göttingen. Giselher studierte evangelische Theologie, Gerhard Geologie. Weil Klammer nach seiner Promotion in Deutschland keine adäquate Arbeit fand, wanderte er Ende 1949 nach Argentinien aus.

Dort heuerte er erst als Bierzapfer an, dann bei der CAPRI, der „Compania Argentina para Proyectos y Realizaciones Industriales“, einem Auffangbecken für NS-Kriegsverbrecher, wie er später herausfand. Einer seiner Zuarbeiter war Ricardo Klement. Sein wirklicher Name: Adolf Eichmann.

Hinweise auf Eichmanns Aufenthalt in Argentinien

Klammer meldete seine Entdeckung den deutschen Behörden. Doch niemand interessierte sich für den brisanten Hinweis. 1957 kehrte der Geologe mitsamt seiner Familie nach Deutschland zurück. Genauer: nach Duisburg. Pohls lebten damals in Unna. Nun sahen sich die Studienfreunde und ihre Familien wieder öfter.

Bei einem Besuch 1959 zog Gerhard Klammer die Freunde Giselher und Rose beiseite und berichtete von Eichmann in Argentinien. Wichtigstes Indiz: ein Foto mit CAPRI-Mitarbeitern samt Eichmann und Klammer, aufgenommen Anfang der 1950er Jahre.

Foto vom untergetauchten Adolf Eichmann

„Ich erzähle euch das jetzt, damit es in die richtigen Hände kommt. Ich will damit nichts mehr zu tun haben“, soll Klammer zu Giselher Pohl gesagt haben.

Du als Pfarrer wirst schon eine Möglichkeit finden.

Porträt von einem Mann und einer Frau
privat
Giselher und Rose Pohl im Jahr 1958

Gerhard Klammer bat um absolutes Stillschweigen. Er habe damit nicht im Rampenlicht erscheinen wollen und berufliche Nachteile befürchtet. Auch der Theologe Pohl hatte kein Interesse an Öffentlichkeit. Aber: Er arbeitete als Militärseelsorger und sein Chef war der Militärbischof Hermann Kunst in Bonn.

Militärbischof Kunst gibt Hinweis auf Eichmann an Fritz Bauer weiter

Rosemarie Pohl schrieb am 10. November 1959 in ihr Tagebuch „Große Wäsche gemacht, Vati auf dem Weg zum Bischof nach Bonn.“ Ihre Tochter Sigrid Wobst erinnert sich an einen „charmanten, netten, gebildeten Menschen, der auch zur Visitation zu uns kam“.

Bischof Kunst handelte, wie Pohl erhofft hatte. Er wandte sich umgehend an den Nazi-Jäger Fritz Bauer.

Buch-Tipp zu Adolf Eichmann

Bettina Stangneth: „Eichmann vor Jerusalem: Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“; Rowohlt Verlag 2014; 656 Seiten; 24 Euro.

Der wiederum fackelte nicht lange, nachdem er nun einen neuen Hinweis darauf hatte, wo Eichmann zu finden sei.

Kinder sind bei wichtigen Gesprächen der Erwachsenen nicht dabei

Unter dem 25. November 1959 steht in Rosemarie Pohls Tagebuch „Generalstaatsanwalt Bauer zum Kaffee – nett“. Tochter Sigrid, damals zwölf Jahre alt, erinnert sich an Bauer. „Ich habe am Fenster gestanden und gesehen, wie die schwarze Limousine ankam. Ein freundlicher, gepflegter, älterer Herr stieg aus – wie mein Großvater.“

Ihre Mutter hatte Kaffee gekocht. Die Tochter habe das Zimmer verlassen müssen. „Wir wurden immer weggeschickt, wenn etwas Wichtiges besprochen wurde“, sagt Sigrid Wobst. Sie hat noch eine drei Jahre ältere Schwester.

Porträt von Adolf Eichmann
epd-bild/akg-images
Ab dem 11. April 1961 stand Adolf Eichmann vor dem Bezirksgericht in Jerusalem.

Prozess gegen NS-Verbrecher Eichmann

Fritz Bauer machte sich nach dem Besuch umgehend auf den Weg nach Israel und überzeugte die Mossad-Verantwortlichen, tätig zu werden. Im Mai 1960 entführten Geheimdienstmitarbeiter den Nazi-Verbrecher aus Buenos Aires nach Israel. Dort wurde er vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.

Am 1. Juni 1962 wurde er gehängt – als bislang einziger Mensch, der nach einem Gerichtsverfahren in Israel zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist.

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Generalstaatsanwalt Bauer bei Familie Pohl

Im Sommer 1961 kündigte Generalstaatsanwalt Bauer seinen Besuch bei Familie Pohl an. „Back doch bitte eine Biskuitrolle“, bat die Mutter ihre Tochter Sigrid. „Und verabrede dich für den Nachmittag mit deiner Freundin!“ Sie sollte aus dem Weg sein – wie immer, wenn es spannend wurde.

Fritz Bauer kam, um das Ehepaar Pohl zum Dank zu einer Reise nach Israel einzuladen. Sigrid Wobst wusste damals nicht, warum die Eltern so hohen Besuch bekamen, diese tolle Reise machen konnten oder weshalb es 1962 eine Kiste Jaffa-Orangen gab. Das Bild setzte sich erst zusammen bei jenem Kaffeekränzchen im März 2013. „Meine Mutter“, sagt Sigrid Wobst, „hat erst in Yad Vashem erfasst, was der Hinweis auf Eichmann bedeutet hat.“

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