Neuanfang

Nicht auf die Rente warten: Mit 55 ins Pfarramt

Brigitte Buchsein steht während des Gottesdienstes mit ihrem Braille-Lesegerätes vor dem Publikum
Christian Spangenberg
Brigitte Buchsein während des Gottesdienstes

Brigitte Buchsein möchte Pfarrerin werden – mit Mitte Fünfzig. Und das, nachdem die blinde Frau über 25 Jahre bei einer Versicherung gearbeitet hat.

Die Freude an der Theologie lässt Brigitte Buchsein seit ihrer Schulzeit nicht mehr los. Religion und Mathematik waren immer ihre Favoriten. Nach dem Abitur konnte sie sich aber nicht vorstellen, Theologie zu studieren.Damals hatte ich als behinderte Person kein Recht auf Assistenz im Beruf“, erklärt Brigitte. Diesen Rechtsanspruch gibt es erst seit 2000. Nach der Schule hat sie deswegen zunächst Wirtschaftsingenieurwesen in Amsterdam und Karlsruhe studiert.

Theologie aus Spaß studieren

Brigitte war dabei eine Sache immer klar: „Wenn ich in Rente bin, werde ich aus Spaß Theologie studieren, weil das mein Herzensthema ist“, erzählt sie im Gespräch mit indeon in ihrem Wohnzimmer.

Ich will immer in der Kirche mitarbeiten

Menschen halten Gottesdienst

Lektor*in:Nach einer einjährigen Ausbildung  gestalten Lektor*innen ehrenamtlich Gottesdienste, nutzen dabei aber vorgegebene Texte.

Prädikant*in: Nach einem weiteren Jahr dürfen Prädikant*innen ehrenamtlich Gottesdienste leiten und Predigten und Gebete selbst verfassen.

Vikar*in: Das Vikariat ist der praktische Teil der Pfarrer*innen-Ausbildung nach dem Theologiestudium, vergleichbar mit dem Referendariat bei Lehrkräften.

Pfarrperson:Nach Studium und Vikariatkönnen Pfarrpersonen eine Gemeinde leiten und verbeamtet werden.

„Für mich war aber klar, dass ich ehrenamtlich in der Kirche mitarbeiten will. Ich habe immer geschaut, wo ich noch mehr machen kann.“ Sie war in der Studierendengemeinde aktiv, gehörte dem Kirchenvorstand über 18 Jahre lang an und war Teil der Dekanatssynode.

2017 schloss Brigitte die Ausbildung zur Prädikantin ab und führte seitdem eigenständig durch Gottesdienste. Dabei wird ihr nach und nach klar: „Ich möchte nicht nur den Sonntagvormittag des Pfarrberufs erleben, sondern auch den Dienstag, Donnerstag oder Freitag.“ Gottesdienste halten, sei toll, die Beziehung zu den Menschen einer Gemeinde fülle sie aber noch stärker aus.

Als im Jahr 2020 ihr Bruder frühzeitig verstirbt,fasst Brigitte Buchsein den Entschluss:„Ich muss nicht alles auf die Rente verschieben.“ Sie bewirbt sich auf den Master-Studiengang für Theologie an den Universitäten in Frankfurt und Mainz – neben ihrem Vollzeitjob als Software-Entwicklerin.

Eigene Schriftzeichen für alte Sprachen

Herausfordernd für die ambitionierte Frau während des Studiums: Das Lernen von Sprachen wie Alt-Griechisch und Alt-Hebräisch. Weil die heutige Braille-Schrift deutlich weniger Zeichen hat als das Schriftbild der alten Sprachen, musste Brigitte eigene Schriftzeichen entwickeln. Mit Hilfe ihres Wissens aus dem Informatikstudium war ihr das möglich. „Ich hatte zum Glück stets lösungsorientierte Dozenten an meiner Seite“, berichtet sie.

Vorfreude auf das Vikariat

Teile des Gottesdienstes hält Brigitte Buchsein auch ohne Lesegerät. Hier steht sie Outdoor vor einem Mikrofon
Christian Spangenberg
Teile des Gottesdienstes hält Brigitte Buchsein auch ohne Lesegerät.

Nach dem Examen blickt Brigitte mit Vorfreude auf die nun anstehenden zwei Ausbildungsjahre in der Gemeinde in Oberstedten: „Ich spüre bei dem Thema eine neue Energie in mir drin. Ich freue mich darauf, Menschen in all ihren Lebenslagen zu begleiten.“ Startschwierigkeiten erwartet sie nicht, schließlich kennen sie die Gemeindemitglieder bereits als Prädikantin. „Ich bin zwar klein, aber sage dann doch manchmal, wo es langgeht“, erzählt die ursprünglich aus Hagen stammende Frau schmunzelnd.

Ihr sei auch bewusst, dass sie sich als spätere Pfarrerin nicht nur den Menschen widmen kann, sondern die Gemeinde auch verwalten muss. „Das kann ich durch meinen alten Job schon gut“, sagt Brigitte Buchsein.

Angesprochen darauf, wovor sie in ihrer neuen Rolle als Vikarin Respekt habe, wird die sonst so taffe Frau nachdenklich. Sie wisse zum Beispiel nicht, wie sie als Pfarrerin darauf reagiere, wenn eine fromme Person in der Gemeinde für sie bete, damit sie durch Gott geheilt würde. „Solche völlig übergriffigen Äußerungen musste ich leider schon öfter ertragen“, berichtet sie.

Ich bin die Regisseurin meines eigenen Lebens.

Hilfe im Alltag braucht Brigitte Buchsein in vertrautem Umfeld kaum. „Ich bin die Regisseurin meines eigenen Lebens. Ich kann entscheiden, ob ich Dinge selbständig angehe oder ob ich andere um Hilfe bitte“, erklärt sie selbstbewusst. In unbekannter Umgebung, zum Beispiel bei Besuchen in der Gemeinde, braucht sie hingegen Assistenz, die sie gerne annimmt.

Während des Gespräches liegen eine Braille-Schreibmaschine, sowie die Bedienungshilfe für Handy und Laptop stets in Griffweite. Die Predigt hält sie mithilfe ihres Braille-Lesegerätes und durch die Liturgie führt sie mit speziellen Karteikarten.

Lediglich beim Bewegen zwischen Sitzplatz und Kanzel lässt sie sich unterstützen. „Ohne Führung kann es passieren, dass ich nicht zur Gemeinde gerichtet spreche. Das sieht für die Besucher dann merkwürdig aus“, erklärt sie.

Bibelvers gibt Vikarin immer Kraft

Brigitte Buchsein bei ihrer Verabschiedung in der alten Gemeinde
Christian Spangenberg

Auf die Frage, was ihr im Alltag helfe, immer wieder die Extrameile zu gehen, antwortet Brigitte Buchsein mit einem Bibelvers: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7)

Dieses Motto beschreibe genau ihr Leben: „Nicht verzagt sein, die Chancen sehen, denn es wird schon irgendwie gelingen, auch wenn ich jetzt noch nicht genau weiß wie.“

Inspirierende Personen vorschlagen

Kennst du weitere inspirierende Personen, die wir ebenfalls porträtieren sollten? Erzähl uns gerne von ihnen per Mail in die Redaktion oder über

Instagram

Facebook