Gesellschaft

Zeitzeuge berichtet: Warum Auschwitz noch immer in ihm lebt

Bogdan Bartnikowski steht draußen im Garten und blickt direkt in die Kamera.
Christopher Hechler

Als kleines Kind wurde er ins KZ verschleppt. Heute setzt sich Bogdan Bartnikowski gegen das Vergessen und für ein gutes Miteinander ein.

von Christopher Hechler

Sein einziges „Verbrechen“: Er ist Pole. Mit zwölf Jahren verschleppen die Nazis Bogdan Bartnikowski ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Das war am 11. August 1944 – damals besetzten die Deutschen Polen.

Auch seine Mutter wird mit ihm ins KZ gebracht, allerdings sind die beiden voneinander getrennt. Die Nazis sperrten ihn zusammen mit etwa 150 Kindern und Jugendlichen ins Männerlager. Seine Mitgefangenen waren zwischen zehn und 15 Jahre alt.

Tägliche Folter im KZ

Im Konzentrationslager glich ein Tag dem anderen: „Wir wurden früh am Morgen aus den Baracken herausgetrieben und mussten uns zum Appell aufstellen“, erinnert er sich. Danach zählten die Aufseher durch.

Dort musste Bogdan Bartnikowski „sportliche Übungen“ machen. Die „nannte man nett ‚Morgengymnastik‘“. Sie haben nur ein Ziel, „die Moral der Gefangenen zu brechen.“ Unter ständiger Beobachtung mussten sie Liegestütze oder Froschhüpfen bis zur Erschöpfung machen. Wer sich ungeschickt bewegte, wurde mit dem Schlagstock verprügelt.

„Zwei- bis dreimal am Tag durften wir ganz kurz in den sogenannten Waschraum gehen.“ Dort gab es nur etwas kaltes Wasser, um sich Hände und Gesicht zu benetzen.

Zeitzeuge berichtet immer wieder vom Nazi-Schrecken

Heute ist er 93 Jahre alt und erzählt Kindern und Jugendlichen vom KZ. Wenn er Schulen besucht, lautet die erste Frage meist: „Warum?“

„Die Schüler wollen wissen, wie es dazu kommen konnte, dass ein Kind aus seinem Elternhaus vertrieben wird und sich in dieser Hölle wiederfindet“, erzählt er beim Zeitzeugengespräch in Wiesbaden. Die Schülerinnen und Schüler folgen ihm gebannt und gleichzeitig schockiert. Obwohl eine Dolmetscherin seine Worte übersetzt, hält der Zeitzeuge intensiven Augenkontakt.

KZ-Überlebender Bodgan Bartnikowski

Bogdan Bartnikowski kam am 24. Januar 1932 in Warschau zur Welt. Sein Vater kämpfte in der Polnischen Heimatarmee und wurde von den deutschen Besatzern getötet. Als er zwölf Jahre alt ist, wird er gemeinsam mit seiner Mutter nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er überlebt das KZ und wird Offizier bei der polnischen Luftwaffe. Dort arbeitete er als Journalist für den „Polnischen Soldaten“ und war an mehreren UN-Friedensmissionen beteiligt. Als Autor veröffentlicht er mehrere Bücher. Als Zeitzeuge spricht er immer wieder mit Kindern und Jugendlichen über seine Vergangenheit. Er hat einen Sohn und ist verwitwet.

„Ich werde wirklich sehr detailliert gefragt, wie der Alltag im Konzentrationslager war, in allen Einzelheiten. Dadurch glaube ich, erkennen zu können, dass die Schüler versuchen wollen zu begreifen, was das für eine Zeit war.“ Obwohl die Gespräche „natürlich schwierig und auch schmerzhaft sind, mache ich es, weil mich das Interesse der Schüler motiviert und ich es als meine Pflicht erachte“.

Schon als Kind erlebt Bogdan Bartnikowski mehrere Jahre deutsche Besatzung. Er nennt sich selbst einen Augenzeugen, der erlebt habe, „wie Menschen auf der Straße aufgegriffen und exekutiert wurden“.

Bevor er nach Auschwitz deportiert wurde, fand der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer statt. Das war der bewaffnete Aufstand der sogenannten Polnischen Heimatarmee, einer Widerstandsorganisation.

Zerstörung Warschaus durch die Nazis

Zwei Monate dauerten die Kämpfe. Dann hatten die Deutschen den Aufstand blutig niedergeschlagen. Danach rächten sich die Nazis. Sie wollten die Stadt „dem Erdboden gleichmachen und die Einwohner Warschaus massenhaft erschießen, unabhängig davon, ob sie aktiv am Aufstand beteiligt waren oder nicht“.

Die Nazis vertrieben Menschen aus ihren Häusern, steckten sie in Sammellager und deportierten sie in Konzentrationslager. Auch Bogdan Bartnikowski gehörte dazu. Seither berichtet er „vom Martyrium der polnischen Bevölkerung“.

Beten: Das KZ wieder lebendig verlassen

Abends sangen die Kinder und Jugendlichen manchmal zusammen im KZ. „Aber ganz leise“, erinnert sich Bartnikowski. Es waren patriotische und Kirchenlieder.

„Und wir haben zusammen gebetet. Das alles war wichtig für uns, um unsere Moral aufrechtzuerhalten.“ Es habe „den Glauben daran wiedergegeben, dass wir dieses Konzentrationslager doch lebend verlassen werden“. Die Nazis im KZ nannten die Kinder „kleine polnische Banditen“ und sprachen die Jungen auch so an. „Für sie waren wir Kriminelle.“

Zerrissene Familie im Konzentrationslager

Nur etwa 100 Meter entfernt lebten die Mütter der Jungen im Frauenlager. Und dennoch: „Wir wussten über Monate nichts von ihnen, wie es ihnen geht, ob sie überhaupt noch im KZ sind.“

Durch Zufall sieht Bogdan Bartnikowski seine Mutter für einen kurzen Moment wieder. Wegen seiner kräftigen Statur musste er Wagen voller Kleidung von ermordeten Gefangenen transportieren. Diese wurden zwischen den Sektoren hin- und hergeschickt. Einmal, an einem verregneten Tag, lautete das Ziel Frauenlager.

„Es war eine glückliche Fügung, dass die Frauen an diesem Tag nicht zur Arbeit getrieben worden waren“, erinnert sich Bogdan Bartnikowski. „Ich konnte meine Mutter nach mehr als drei Monaten der Trennung wieder in die Arme schließen. Nur kurz, wir durften nicht entdeckt werden.“

Für mich war das der erste glückliche Tag im Konzentrationslager.

Erst im Januar 1945 trifft er sie wieder. Gemeinsam verschleppen die Nazis sie zur Trümmerräumung nach Berlin-Blankenburg.

Mit dem Trauma umgehen

Über seine Erfahrungen und die seiner Freunde hat der KZ-Überlebende in Büchern geschrieben. „Wir Kinder von Auschwitz hatten einen Verein gegründet und uns“ bei Treffen über „unsere Erlebnisse“ ausgetauscht, berichtet Bogdan Bartnikowski. Daraus entstand das Buch „Eine Kindheit hinterm Stacheldraht“, das 1969 erschienen und in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. 2024 veröffentlichte er sein Buch „Zurück in Auschwitz“.

Bogdan Bartnikowski sitzt an einem Tisch. Vor ihm ein Mikrofon.
Arnulf Kunze
Bogdan Bartnikowski erzählt bei einer Autorenlesung in Wiesbaden von den Greueltaten.

Darin habe er versucht niederzuschreiben, wie die Erlebnisse den Überlebenden noch immer präsent sind und bleiben: „Wir sind nicht mehr in Auschwitz, aber Auschwitz ist in uns drin. Und dieses Auschwitz bleibt bis zum Lebensende in uns haften.“

Verbrechen belasten deutsch-polnische Freundschaft

Obwohl er in seiner Kindheit so viel Gewalt und Entbehrungen erlebt hat, betont Bogdan Bartnikowski, er sei heute „frei von Hass“. Das war für ihn ein langer Prozess. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst epd sagt er resignierend: „Wenn man sich so anschaut, was alles seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges passiert ist und nach wie vor passiert, scheint die Menschheit doch nichts gelernt zu haben.“ Wenn bestimmte Politiker die Zeit des Nationalsozialismus relativieren, mache ihn das traurig.

„Aber es erstaunt mich auch nicht, das ist gang und gäbe“, schildert der Zeitzeuge. Menschen, die sich die Geschichte nach ihren Wünschen zurechtbiegen, die sich nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen wollen, werde es immer geben.

Gegen Geschichtsrelativierung und für eine starke Gesellschaft

Deswegen sagt er entschlossen: „Was wir machen können, ist trotzdem daran zu erinnern, was tatsächlich passiert ist.“

Sein Augenmerk liege auf der Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen. Ziel müsse es sein, gemeinsam zum Wohle aller an einem Strang zu ziehen.

Für deutsch-polnische Verständigung

2025erhielt Bogdan Bartnikowski in Wiesbaden die Bürgermedaille in Silber. So würdigt ihn die Stadt für seine enge Beziehung zur Landeshauptstadt sowie sein Fördern der Verständigung zwischen Deutschland und Polen.

Der evangelische Verein „Zeichen der Hoffnung“ hat in der Stadt 45 Zeitzeugengespräche mit ihm und anderen organisiert. Er hat weitere Überlebende dazu inspiriert, erstmals öffentlich in Deutschland über ihre Erlebnisse zu sprechen.

Das vereinte Europa bedeutet Bogdan Bartnikowski sehr viel: „Ich habe im Laufe meines Lebens Systeme kommen und fallen sehen. Meine Beobachtung ist: Wenn die Menschheit überhaupt eine Überlebenschance hat, dann nur, wenn sie miteinander in Eintracht und Frieden lebt.“

Sein Lebensmotto der Versöhnung hat er nach eigenen Worten aus seiner Kindheit abgeleitet: „Ich hatte die Wahl zwischen Hass, Vergeltung, Rache oder Versöhnung, Frieden, Kooperation. Ich habe mich für das zweite entschieden, weil die erste Option mich innerlich aufgefressen hätte.“