Erinnerungskultur

80 Jahre Kriegsende - Ist Erinnerungskultur noch zeitgemäß?

Portrait von Christian Hahn
Kommentar von Christian Hahn

2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Christian Hahn erläutert, warum die Erinnerung daran auch heute noch so wichtig ist.

Unter Erinnerungskultur verstehen wir den Umgang einer Gesellschaft mit ihrer Geschichte. In Deutschland leben wir zahlreiche Formen der Erinnerungskultur: Es gibt Gedenktage, -stätten, -stunden und -orte, Denkmäler, Bildungseinrichtungen, Schulwettbewerbe, Briefmarken, Straßennamen und vieles mehr. Der deutsche Diskurs zur Erinnerungskultur ist stark auf den Holocaust und den Nationalsozialismus zugeschnitten, ergänzt um SED-Geschichte und ganz aktuell erweitert um Migrations- und Kolonialgeschichte. Der Blick in die Vergangenheit hilft uns, die Gegenwart besser zu verstehen.

Erinnerungskultur: zwischen Schuld und Verantwortung differenzieren

Beim Blick auf die NS-Zeit ist es wichtig, zwischen Schuld und Verantwortung zu differenzieren: Die heutige Generation trägt zwar keine Schuld am Holocaust, hat aber die Verantwortung, nicht zu vergessen. Deshalb ist es wichtig, die Geschichte zu kennen. Nur so kann man Relativierungen und verharmlosende Strömungen erkennen und ihnen argumentativ begegnen.

Erinnerungskultur: von Rechten relativiert

Wir erleben derzeit einen Rechtsruck in diesem Land, den vielleicht perfidesten und wirkmächtigsten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Kalkül und Tabubrüche, Drohgebärden und Unwahrheiten, weit über die AfD hinaus – das macht vielen Menschen Angst, wie die großen Demonstrationen im vergangenen Winter zeigen. Einer der üblen Taschenspieler-Tricks der Rechten ist es, die Vergangenheit zu verharmlosen und damit die Opfer zu verhöhnen. Darauf gibt es eine starke Antwort: Bildung! Jede Gedenkstättenfahrt, jede Unterrichtsstunde zur Thematik hilft dabei, junge Menschen stark zu machen gegen menschenfeindliche Lügen und Verharmlosungen.

KZ-Gedenkstätten gegen das Vergessen

Erst kürzlich war ich wieder in einer KZ-Gedenkstätte zu Gast und habe miterlebt, was Besuche dort mit (jungen) Menschen machen. Längst nicht alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben während ihrer Schulzeit die Möglichkeit, eine solche Gedenkstätte zu besuchen. Wer aber einmal das Krematorium von Buchenwald oder die Rampe von Auschwitz-Birkenau gesehen hat, vergisst das nicht. Dieses Wissen ist hilfreich, um den Lügen und der Hetzerei begegnen und sie widerlegen zu können. Um widersprechen zu können, wenn bei der Familienfeier oder im Sportverein der Unfug wiederholt wird, der mittlerweile salonfähig zu werden droht.

Immer weniger Zeitzeugen

Die Anzahl der Menschen, die sich noch an den Holocaust in Deutschland erinnern und von ihm erzählen können, ist heute verschwindend gering. Doch mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen muss nicht die Erinnerungskultur verschwinden. Die Erinnerung dieser Menschen ist oft aufgezeichnet und in unterschiedlichen Anwendungen zugänglich, beispielsweise bei www.zweitzeugen.de. Diese wertvollen Quellen sollten Eingang in den Schulunterricht finden. Solche Erzählungen haben eine besondere Wucht, gerade auf junge Menschen.

Zeitgemäße Erinnerungskultur

Auch sich mit der Geschichte in seinem Heimatort auseinanderzusetzen, ist ein Teil von Erinnerungskultur – zum Beispiel mit den Biografien der Menschen, für die Stolpersteine verlegt wurden. Die Gründe für deren Verschwinden müssen thematisiert werden. Das kann eine Brücke zur Gegenwart schlagen und hilft bei der Beantwortung der Frage: Was bedeutet das für uns, für unser Handeln und Zusammenleben heute? Erinnerungskulturelle Bildungsarbeit spielt eine wichtige Rolle, um Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken. Diese Angebote sind auch 80 Jahre nach Kriegsende noch notwendig. Zeitgemäße Formen müssen immer wieder neu erdacht und um zusätzliche Perspektiven erweitert werden. Zwangsräume Berlin ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Gedenken in den digitalen Raum verlängert werden kann.

Es ist nicht die Frage, ob Erinnerungskultur noch zeitgemäß ist. Erinnerungskultur findet statt. Es ist wichtig, den Umgang mit der Vergangenheit nicht denen zu überlassen, die ihn für fremdenfeindliche und antisemitische Politik missbrauchen. Unsere Gesellschaft kann sich das nicht leisten.