von Steffen Möller
Wo immer auf Erden Vergleiche zwischen deutscher und polnischer Kultur angestellt werden, fällt der Begriff der Gastfreundschaft als erster. Die Lage scheint ja auch völlig klar zu sein: Die Deutschen sind die Geizhälse, die Polen die Gastfreundlichen. Kein deutscher Ehemann, der nicht von seiner polnischen Familie tagelang bewirtet worden wäre, keine Polin, die bei ihren deutschen Schwiegereltern nicht von einem Entsetzen ins nächste getaumelt wäre, weil ihr nicht mal eine zweite Salamischnitte angeboten wurde.
Planungsfetischismus ist er nicht gewohnt
Gastgeber müssen sich für ihre polnischen Gäste ins Zeug legen. Das fängt schon bei der Verabredung des Termins an. Wenn der deutsche Gastgeber umständlich im Kalender herumsucht und jammert: „Nee, am Dienstag ist Zahnarzt, am Mittwoch Männergruppe, und am Donnerstag brauche ich Ruhe“ - dann vergeht dem polnischen Gast schon die Lust.
Einen solchen Planungsfetischismus ist er nicht gewohnt. Wenn hier einer den Termin bestimmen darf, dann ist er es! Man sollte als Gastgeber auch nicht fragen, wie viele Kartoffeln der Gast zu essen pflegt. Alle Eventualitäten müssen einkalkuliert werden, und das heißt im Klartext: Es muss viel zu viel Essen da sein.
Das Essen dampft, der Wein ist entkorkt, die Gäste fehlen (noch)
Nun ist der große Abend gekommen. Man hat mittlerweile drei andere Termine abgelehnt und eine Viruserkankung überlebt, aber tapfer durchgehalten. Verschieben darf nämlich nur der Gast! Und dann das! Das Essen dampft, der Wein ist entkorkt, aber die Polen verspäten sich. Sie rufen nicht einmal an, um sich für ihre Verspätung zu entschuldigen.
Ach was, Hauptsache, ihr seid gesund durch den Verkehr gekommen!
Mit eiserner Geduld muss das Essen warmgehalten werden. Und wenn die Gäste endlich eintrudeln und sich mit vagen Worten entschuldigen, muss der Gastgeber entrüstet sagen: »Ach was, Hauptsache, ihr seid gesund durch den Verkehr gekommen!“ Nun führt man die Gäste an den vollgeladenen Tisch. Sie werden Erstaunen mimen und sagen, dass sie eigentlich rein gar nichts essen wollten.
Seit Stunden freuen sie sich auf ein reichhaltiges Essen
Bei deutschen Gästen wäre das die pure Wahrheit (denn sie haben ja zu Hause schon vorgegessen), doch bei den Polen darf die Erklärung nicht für bare Münze genommen werden. Seit Stunden freuen sie sich auf ein reichhaltiges Essen, haben möglicherweise auf das Mittagessen verzichtet, um abends guten Appetit zu haben. Das tun sie nicht, um ein paar Euro zu sparen, sondern weil sie den Gastgeber nicht kränken wollen, indem sie seinen Speisen zu wenig zusprechen.
Hauptsache, der Tisch wird niemals leer
Wenn sie sich dann endlich, nach dreimaligem Drängen des Gastgebers, dazu bereit erklärt haben, wider Erwarten doch eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen, darf das Essen serviert werden. Sobald eine Schüssel leer zu werden droht, holt man eilends Nachschub aus der Küche. Im Notfall müssen Knabberzeug, Oliven, Käse oder Brot aufgefahren werden.
Hauptsache, der Tisch wird niemals leer, weil die Gäste das als eine indirekte Andeutung empfinden würden, dass die Konversation mit ihnen ein Fiasko ist. Im Idealfall sollte auch um zwei Uhr morgens noch ein Überraschungsdessert aus dem Kühlschrank gezaubert werden.
Na gut, weil es so schön ist, bleiben wir halt noch ein Weilchen.
Falls der Gastgeber zu diesem Zeitpunkt schon todmüde ist, muss er sich Streichhölzer unter die Lider klemmen. Seine letzte, größte Aufgabe besteht nämlich darin, den furchtbaren Moment des Abschieds bis ins Unendliche hinauszuzögern. Nur die Gäste dürfen vorsichtige Andeutungen machen, dass sie so langsam mal gehen möchten. Dann muss seitens der Gastgeber abgrundtiefes Beleidigtsein markiert werden: „Wie bitte? Unmöglich!“ - „Na gut, weil es so schön ist, bleiben wir halt noch ein Weilchen.“ Ab dem Wort „Weilchen“ sind es noch zwei Stunden. Jetzt nicht die Nerven verlieren!