von Viktoria Chernykova-Berezdetska
Hannas Morgen beginnt mit einer Nachricht an ihren Mann. Er ist zurzeit Soldat in der ukrainischen Armee, an der Frontlinie. Wenn die Nachricht abgeschickt ist, folgt Warten. Banges Warten. Wenn sie die Nachricht „Mir geht's gut“ erhält, geht sie zum Sprachkurs. Wenn nicht, dann ist sie wie gelähmt und sie muss sich zwingen, trotzdem zu funktionieren.
Manchmal gibt es mehrere Tage lang keinen Kontakt zu ihm. An diesen Tagen prüft Hanna ängstlich alle paar Minuten ihren Messenger, um zu sehen, ob ihr Mann endlich online ist. Hanna war in der Ukraine Tanzlehrerin und möchte es in Deutschland auch wieder sein. Dafür ist ein fortgeschrittenes Sprachniveau (C1) in Deutsch erforderlich.
Ich weine oft heimlich.
Nach dem Kurs geht sie zu einer Probe der Tanzgruppe des Ukrainischen Koordinationszentrums in Frankfurt oder gibt Unterricht für ukrainische Vorschulkinder. Der Sprachkurs und die ehrenamtliche Arbeit helfen ihr, sich abzulenken, sagt Hanna. Zu Hause weint sie oft heimlich und verbirgt ihre Tränen vor ihrer Tochter im Teenageralter. So lebt Hanna nun schon seit fast zwei Jahren, seit sie im März 2022 aus der Ukraine in eine Vorstadt von Frankfurt am Main gezogen ist.
Ukrainische Flüchtlingsfrauen zahlen einen hohen Preis für ein sicheres Leben in Deutschland. Er wird in harter Währung bezahlt:
Und je länger der Krieg andauert, desto mehr ukrainische Frauen sind gezwungen, die Entscheidung zu treffen: Sollen sie ein neues Leben in einem fremden Land aufbauen oder in ihr Heimatland zurückkehren?
Nicht wenige haben sich tatsächlich für die zweite Option entschieden. Immer wieder hören wir von Bekannten, welche die Sicherheit Deutschlands verlassen haben. Trotz Raketenbeschuss und Drohnenangriffen. Sie haben das Leben im Spagat nicht mehr ausgehalten.
Tatiana kehrte in die Ukraine zurück, weil sie es nicht ertragen konnte, von ihrem Mann getrennt zu sein. Während ihrer anderthalb Jahre in Frankfurt lernte sie Deutsch auf B1-Niveau, machte sich als Fotografin selbstständig und baute sich einen Kundenstamm auf. Sie hatte gute Aussichten in Deutschland, aber Tatiana entschied sich für ihre Ehe. Für sie war die Rückkehr die einzige Möglichkeit, mit ihrem Mann zusammen zu sein.
Oksana zog von Deutschland nach Lemberg, weil ihre 10-jährige Tochter sich nicht an das Leben in Deutschland anpassen konnte. Sie wurde in der Schule gemobbt und begann ihre Fingernägel zu kauen, konnte nicht mehr schlafen. Mit der Rückkehr in die Ukraine war sie wie ausgewechselt: „Es gibt keine Wutanfälle mehr, meine Tochter geht gerne zur Schule, kaut nicht mehr an den Fingern und schläft gut.“
„Mein Mann versteht nicht, warum ich es in Deutschland so schwer habe“, gibt Anna aus Kyiw zu. Oberflächlich betrachtet ist eigentlich alles in Ordnung:
Aber psychisch, sagt Anna, ist sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ein anderes Land, andere Regeln und eine andere Sprache, und eine lähmende Angst um ihre Familie in der Ukraine.
Das letzte Mal war Anna in der Silvesternacht in Kyiw. Gerade da gab es massive Raketenangriffe auf die Stadt.
Ihr Mann dient in den Streitkräften der Ukraine. Er befindet sich im Krieg, sie im Exil, und beide machen darin sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ihre beiden Realitäten sind so weit voneinander entfernt wie Planeten im Weltraum. Nach zwei Jahren bröckelt das Verständnis für einander, es wird schwer Gesprächsthemen zu finden und manchmal erinnert man sich nur noch schwach, was man einmal für einander empfunden hat.
Wir Ukrainer:innen in Deutschland haben nicht nur Verständigungsschwierigkeiten mit unseren Männern an der Front. Auch Verwandte und Bekannte, die in der Ukraine geblieben haben, verstehen oft unsere Lage nicht.
Zugleich stoßen wir aber auch bei Ukrainer:innen auf Unverständnis, die schon lange in Deutschland leben. Meine Freundin, die als Studentin nach Frankfurt gekommen ist, sagte 2022 angesichts der vielen ukrinischen Geflüchteten, die nach Deutschland kamen: „Als ich nach Deutschland kam, habe ich mir alles selbst besorgt, ohne jegliche Unterstützung vom Staat. Ich habe meine Sprachkurse selbst bezahlt und mehrere Jobs ausgeübt. Und jetzt organisiert Deutschland kostenlose Deutschkurse für ukrainische Flüchtlinge, stellt Wohnraum und finanzielle Unterstützung zur Verfügung und erteilt Arbeitserlaubnisse.“
Wir hofften, in ein paar Monaten zurück zu sein.
Es tat mir leid, dass meine Freundin den Unterschied zwischen bewusster Einwanderung und Flucht vor dem Krieg nicht erkannte. Für sie war der Umzug nach Deutschland eine freiwillige Entscheidung, für mich und Hunderttausende anderer ukrainischer Frauen war es ein erzwungener Schritt, um unser Leben zu retten.
Als wir im Frühjahr 2022 in Deutschland ankamen, dachten die meisten von uns nicht einmal an Integration und Anpassung. Wir hofften, ein paar Monate warten zu können, bis die Kriegshandlungen beendet sind, und dann nach Hause zurückzukehren.
Mit der bitteren Erkenntnis, dass der Krieg noch lange andauern würde, wurde uns klar, dass wir die Sprache lernen undArbeit suchen müssen. In diesem Kontext erwies sich das deutsche System der Integrationskurse als ein sehr hilfreiches Instrument.
Eines Tages wurden meine Freundin und ich in einem Supermarkt von einer deutschen Frau angesprochen. Sie fragte, ob wir aus der Ukraine kämen, und als wir das bejahten, fragte sie: „Arbeiten Sie schon?“. Ich war überrascht und sagte, dass wir Deutsch lernen, denn was kann man schon arbeiten, wenn man die Sprache nicht beherrscht?
Ich wurde ein Niemand.
In diesem Moment wurde mir klar, dass diese Frau mich nicht als Person mit irgendwelchen Fähigkeiten oder Erfahrungen ansah. Für sie war ich nur ein Paar Hände, die den Boden wischen oder Waren im Lagerhaus ausladen können. Meine 20 Jahre Erfahrung im Journalismus, meine Arbeit im Fernsehen, in Zeitungen und im Radio, Hunderte von Interviews und Texten - all das schien sich in einem Augenblick zu verflüchtigen. Ich wurde ein Niemand. Ich fühlte mich, als hätte man mir eine Ohrfeige verpasst.
Aber ich hatte Glück: Vor drei Monaten habe ich ein Bewerbungsverfahren bestanden und bin ins Team von Amal Frankfurt aufgenommen worden. Das ist ein Medium, in dem geflüchtete Journalist:innen aus der Ukraine, Iran, Afghanistan und verschiedenen arabischen Ländern in ihren Muttersprachen über alles berichten, was lokal und überregional wichtig ist.
Wir haben Redaktionen in Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main. Unsere Zielgruppe sind Menschen wie wir: Geflüchtete, die neu angekommen sind. Bei uns erfahren sie, was in ihrer Umgebung los ist und wie sie sich beteiligen können. Wir denken, dass es wichtig ist, von Anfang an dabei zu sein, nicht erst, wenn alle Sprachkurse absolviert sind. Für mich ist das eine einmalige Chance, in meinem Bereich zu arbeiten und zugleich anderen, die in der gleichen Situation sind, beim Einleben und bei der Orientierung zu helfen.
Deutschland hat mich und Hunderttausende andere ukrainische Frauen in der schwierigsten und beängstigendsten Zeit unseres Lebens aufgenommen. Dieses Land hat uns und unseren Kindern Unterstützung, Brot und Unterkunft gegeben. Es gab uns die Möglichkeit, die Sprache zu lernen und das Recht zu arbeiten. Und vor allem hat es uns Hoffnung gegeben. Hoffnung, dass wir noch glücklich sein können und Hoffnung auf Frieden in der Ukraine. Wir schätzen alles, was Deutschland für die Ukrainer:innen tut, und danken für die Hilfe!