Ukrainekrieg

Ukrainerinnen in Deutschland: Zwischen Exil und Heimweh

Junge Frau mit der Flagge der Ukraine
gettyimages/puhimec

Geflohen vor dem Krieg in der Ukraine: Wie fühlen sich die Menschen 2 Jahre nach Kriegsbeginn hier in Deutschland? Ukrainerinnen berichten.

von Viktoria Chernykova-Berezdetska

Portrait Viktoria Chernykova-Berezdetska
privat

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert nun schon mehr als 700 Tage an. Und fast ebenso lange leben Hunderttausende von ukrainischen Frauen und Kindern im Exil und sind vor den russischen Raketen nach Deutschland geflohen. Wie hat sich ihr Leben in diesen zwei Jahren verändert? Viktoria Chernykova-Berezdetska, Journalistin von Amal Frankfurt, spricht über ihr Flüchtlingserlebnis und das anderer ukrainischer Frauen.

Hannas Morgen beginnt mit einer Nachricht an ihren Mann. Er ist zurzeit Soldat in der ukrainischen Armee, an der Frontlinie. Wenn die Nachricht abgeschickt ist, folgt Warten. Banges Warten. Wenn sie die Nachricht „Mir geht's gut“ erhält, geht sie zum Sprachkurs. Wenn nicht, dann ist sie wie gelähmt und sie muss sich zwingen, trotzdem zu funktionieren.

Wenn Angehörige aus der Ukraine sich nicht melden

Manchmal gibt es mehrere Tage lang keinen Kontakt zu ihm. An diesen Tagen prüft Hanna ängstlich alle paar Minuten ihren Messenger, um zu sehen, ob ihr Mann endlich online ist. Hanna war in der Ukraine Tanzlehrerin und möchte es in Deutschland auch wieder sein. Dafür ist ein fortgeschrittenes Sprachniveau (C1) in Deutsch erforderlich.

Ich weine oft heimlich.

Nach dem Kurs geht sie zu einer Probe der Tanzgruppe des Ukrainischen Koordinationszentrums in Frankfurt oder gibt Unterricht für ukrainische Vorschulkinder. Der Sprachkurs und die ehrenamtliche Arbeit helfen ihr, sich abzulenken, sagt Hanna. Zu Hause weint sie oft heimlich und verbirgt ihre Tränen vor ihrer Tochter im Teenageralter. So lebt Hanna nun schon seit fast zwei Jahren, seit sie im März 2022 aus der Ukraine in eine Vorstadt von Frankfurt am Main gezogen ist.

Ukrainische Frauen nach Deutschland geflüchtet

Ukrainische Flüchtlingsfrauen zahlen einen hohen Preis für ein sicheres Leben in Deutschland. Er wird in harter Währung bezahlt:

  • In monatelanger Trennung
  • Nervenzusammenbrüchen
  • Wutanfällen der Kinder
  • täglichen Versuchen, die Sprachbarriere zu überwinden

Und je länger der Krieg andauert, desto mehr ukrainische Frauen sind gezwungen, die Entscheidung zu treffen: Sollen sie ein neues Leben in einem fremden Land aufbauen oder in ihr Heimatland zurückkehren?

Nicht wenige haben sich tatsächlich für die zweite Option entschieden. Immer wieder hören wir von Bekannten, welche die Sicherheit Deutschlands verlassen haben. Trotz Raketenbeschuss und Drohnenangriffen. Sie haben das Leben im Spagat nicht mehr ausgehalten.

Warum Frauen zurück in die Ukraine gehen

Tatiana kehrte in die Ukraine zurück, weil sie es nicht ertragen konnte, von ihrem Mann getrennt zu sein. Während ihrer anderthalb Jahre in Frankfurt lernte sie Deutsch auf B1-Niveau, machte sich als Fotografin selbstständig und baute sich einen Kundenstamm auf. Sie hatte gute Aussichten in Deutschland, aber Tatiana entschied sich für ihre Ehe. Für sie war die Rückkehr die einzige Möglichkeit, mit ihrem Mann zusammen zu sein.

Oksana zog von Deutschland nach Lemberg, weil ihre 10-jährige Tochter sich nicht an das Leben in Deutschland anpassen konnte. Sie wurde in der Schule gemobbt und begann ihre Fingernägel zu kauen, konnte nicht mehr schlafen. Mit der Rückkehr in die Ukraine war sie wie ausgewechselt: „Es gibt keine Wutanfälle mehr, meine Tochter geht gerne zur Schule, kaut nicht mehr an den Fingern und schläft gut.“

Krieg in der Ukraine

In Deutschland leben mehr als 1,1 Millionen geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Sie sind vor dem russischen Angriffskrieg geflohen. Dieser jährt sich am 24. Februar schon zum zweiten Mal. 

Unter uns Ukrainer:innen in Deutschland wird viel über diese Rückkehrerinnen gesprochen. Aber sie sind die große Ausnahme. Die meisten von uns bleiben hier.

Einige haben sich bewusst entschieden, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Andere können sowieso nicht zurück - ihre Städte sind von Russland besetzt oder zerstört. Andere schätzen das Risiko als zu hoch ein, in die Ukraine zurückzukehren, solange der Krieg andauert.

„Mein Mann versteht nicht, warum ich es in Deutschland so schwer habe“, gibt Anna aus Kyiw zu. Oberflächlich betrachtet ist eigentlich alles in Ordnung:

  • Sie ist Webdesignerin.
  • Sie hat einen Job und eine Wohnung.
  • Ihr 6-jähriger Sohn bereitet sich erfolgreich auf die Schule vor.

Aber psychisch, sagt Anna, ist sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ein anderes Land, andere Regeln und eine andere Sprache, und eine lähmende Angst um ihre Familie in der Ukraine.

Das letzte Mal war Anna in der Silvesternacht in Kyiw. Gerade da gab es massive Raketenangriffe auf die Stadt.

Eine Ehe zwischen Ukraine und Deutschland

Ihr Mann dient in den Streitkräften der Ukraine. Er befindet sich im Krieg, sie im Exil, und beide machen darin sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ihre beiden Realitäten sind so weit voneinander entfernt wie Planeten im Weltraum. Nach zwei Jahren bröckelt das Verständnis für einander, es wird schwer Gesprächsthemen zu finden und manchmal erinnert man sich nur noch schwach, was man einmal für einander empfunden hat.

Wir Ukrainer:innen in Deutschland haben nicht nur Verständigungsschwierigkeiten mit unseren Männern an der Front. Auch Verwandte und Bekannte, die in der Ukraine geblieben haben, verstehen oft unsere Lage nicht.

Neid-Debatte unter Menschen aus Ukraine in Deutschland

Zugleich stoßen wir aber auch bei Ukrainer:innen auf Unverständnis, die schon lange in Deutschland leben. Meine Freundin, die als Studentin nach Frankfurt gekommen ist, sagte 2022 angesichts der vielen ukrinischen Geflüchteten, die nach Deutschland kamen: „Als ich nach Deutschland kam, habe ich  mir alles selbst besorgt, ohne jegliche Unterstützung vom Staat. Ich habe meine Sprachkurse selbst bezahlt und mehrere Jobs ausgeübt. Und jetzt organisiert Deutschland kostenlose Deutschkurse für ukrainische Flüchtlinge, stellt Wohnraum und finanzielle Unterstützung zur Verfügung und erteilt Arbeitserlaubnisse.“

Wir hofften, in ein paar Monaten zurück zu sein.

Es tat mir leid, dass meine Freundin den Unterschied zwischen bewusster Einwanderung und Flucht vor dem Krieg nicht erkannte. Für sie war der Umzug nach Deutschland eine freiwillige Entscheidung, für mich und Hunderttausende anderer ukrainischer Frauen war es ein erzwungener Schritt, um unser Leben zu retten.

Als wir im Frühjahr 2022 in Deutschland ankamen, dachten die meisten von uns nicht einmal an Integration und Anpassung. Wir hofften, ein paar Monate warten zu können, bis die Kriegshandlungen beendet sind, und dann nach Hause zurückzukehren.

Mit der bitteren Erkenntnis, dass der Krieg noch lange andauern würde, wurde uns klar, dass wir die Sprache lernen undArbeit suchen müssen. In diesem Kontext erwies sich das deutsche System der Integrationskurse als ein sehr hilfreiches Instrument.

Nach der Flucht: Verlorene Identität 

Eines Tages wurden meine Freundin und ich in einem Supermarkt von einer deutschen Frau angesprochen. Sie fragte, ob wir aus der Ukraine kämen, und als wir das bejahten, fragte sie: „Arbeiten Sie schon?“. Ich war überrascht und sagte, dass wir Deutsch lernen, denn was kann man schon arbeiten, wenn man die Sprache nicht beherrscht?

Ich wurde ein Niemand.

In diesem Moment wurde mir klar, dass diese Frau mich nicht als Person mit irgendwelchen Fähigkeiten oder Erfahrungen ansah. Für sie war ich nur ein Paar Hände, die den Boden wischen oder Waren im Lagerhaus ausladen können. Meine 20 Jahre Erfahrung im Journalismus, meine Arbeit im Fernsehen, in Zeitungen und im Radio, Hunderte von Interviews und Texten - all das schien sich in einem Augenblick zu verflüchtigen. Ich wurde ein Niemand. Ich fühlte mich, als hätte man mir eine Ohrfeige verpasst.

Nachrichten bei Amal

Wenn Geflüchtete nach Deutschland kommen, können sie auf ihrer Muttersprache Nachrichten und Artikel lesen. Dank Amal, Frankfurt. Bei diesem Online-Portal schreiben Geflüchtete für Geflüchtete. Den Frankfurter Ableger gibt es seit 2023.

Die meisten Flüchtlingsfrauen aus der Ukraine haben einen Reset ihrer bisherigen Lebens- und Berufserfahrung erlebt. Anna aus Charkiw war Dozentin an der Kulturakademie. Als das Jobcenter ihren Lebenslauf las, schlug es die Hände über dem Kopf zusammen: überqualifiziert, schwer vermittelbar. In Deutschland braucht sie als Dozentin das passende Zeugnis und sehr gute Deutschkenntnisse. Anna hat eine Lösung gefunden: sie unterrichtet weiter online an der Kulturakademie in Charkiw und gibt ihr Einkommen beim Jobcenter an.  

Berufliche Veränderungen durch die Flucht

Natalia ist professionelle Opernsängerin. Vor zwei Jahren trat sie in der Lemberger Oper auf, jetzt betreut sie Kinder in einem Frankfurter Kindergarten. Sie habe sich bewusst für die Arbeit in einem Kindergarten entschieden, sagt sie. Da ihr Deutsch noch nicht gut war, habe sie sich zunächst entschlossen, als Kindergartenhelferin beworben. Nachdem sie die Probezeit erfolgreich absolviert hatte, wurde ihr ein Vertrag angeboten und die Kosten für Sprachkurse übernommen. 

Yulia, eine Logopädin, hat es geschafft, in Deutschland eine Stelle in ihrem Fachgebiet zu finden. Mit minimalen Deutschkenntnissen begann sie zehn Stunden pro Woche als Sprachtherapeutin zu arbeiten und gleichzeitig die Deutsch zu lernen. Nach fast einem Jahr Arbeit hat Yulia ihr Deutsch so weit verbessert, dass sie nun davon träumt, hier auf dem Gebiet der Logopädie zu forschen.

Deutschland ist ein Land der Chancen

Viele ukrainische Frauen stehen heute vor der Frage, wie sie ihr Wissen und ihre Berufserfahrung in Deutschland anwenden können, ohne die deutsche Sprache zu beherrschen. Bis vor kurzem gehörte ich zu diesen Frauen. Mein ganzes Leben lang habe ich im Journalismus gearbeitet, und die Sprache war mein Arbeitsinstrument. Als ich nach Deutschland kam, war ich wie betäubt. Das Sprachniveau B1, das ich jetzt habe, reicht nicht aus, um in deutschen Medien zu arbeiten.

Aber ich hatte Glück: Vor drei Monaten habe ich ein Bewerbungsverfahren bestanden und bin ins Team von Amal Frankfurt aufgenommen worden. Das ist ein Medium, in dem geflüchtete Journalist:innen aus der Ukraine, Iran, Afghanistan und verschiedenen arabischen Ländern in ihren Muttersprachen über alles berichten, was lokal und überregional wichtig ist.

Nachrichten von und für geflüchtete Menschen in ihrer Muttersprache

Wir haben Redaktionen in Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main. Unsere Zielgruppe sind Menschen wie wir: Geflüchtete, die neu angekommen sind. Bei uns erfahren sie, was in ihrer Umgebung los ist und wie sie sich beteiligen können. Wir denken, dass es wichtig ist, von Anfang an dabei zu sein, nicht erst, wenn alle Sprachkurse absolviert sind. Für mich ist das eine einmalige Chance, in meinem Bereich zu arbeiten und zugleich anderen, die in der gleichen Situation sind, beim Einleben und bei der Orientierung zu helfen

Deutschland hat mich und Hunderttausende andere ukrainische Frauen in der schwierigsten und beängstigendsten Zeit unseres Lebens aufgenommen. Dieses Land hat uns und unseren Kindern Unterstützung, Brot und Unterkunft gegeben. Es gab uns die Möglichkeit, die Sprache zu lernen und das Recht zu arbeiten. Und vor allem hat es uns Hoffnung gegeben. Hoffnung, dass wir noch glücklich sein können und Hoffnung auf Frieden in der Ukraine. Wir schätzen alles, was Deutschland für die Ukrainer:innen tut, und danken für die Hilfe!