Gesellschaft

Nicht zugucken: So wählen Menschen mit Behinderung

Kristjan Zweigert sitzt in seinem Rollstuhl im Flur
Achim Stadelmaier
Kristjan Zweigert will unbedingt bei der Bundestagswahl abstimmen.

Eine Wahl für alle? Nicht ganz, denn wie die Gesellschaft behindern kann, erfahren Menschen mit Behinderung.

Dein Haustier hat kein Wahlrecht, warum hatten es viele Menschen in Deutschland noch vor kurzem auch nicht? Was absurd klingt, war jahrzehntelang normal. Denn Menschen mit geistiger Behinderung von der Wahl ausgeschlossen wurden. Erst 2019 wurde dieses Recht für alle durchgesetzt.

Heute können auch Menschen, die betreut werden, ihre Stimme bei Wahlen abgeben. Doch ist das Wahlrecht allein schon gelebte Inklusion? Bei einem Infoabend einer inklusiven Wohngruppe zeigt sich: Es braucht viel mehr als nur ein Gesetz, damit wirklich alle mitmachen können.

„Wählen geht alle etwas an!“

Kristjan Zweigert will unbedingt an der Bundestagswahl seine Stimme abgeben. Denn wenn er nicht wählt, „wird meine Stimme ja jemand anderem gegeben“. Er ist überzeugt, dass die Politik mehr für Rollstuhlfahrende wie ihn tun müsse. Deswegen wählt er auch aus Protest: Themen wie Inklusion und soziale Gerechtigkeit liegen ihm am Herzen, und er möchte Parteien wählen, die sich wirklich für solche Anliegen einsetzen.

Wählen mit Behinderung: Was du wissen solltest

Seit wann dürfen alle Menschen mit Behinderung wählen?
Seit März 2019. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, alle Menschen haben ein Recht auf Wahlen.

Gibt es Ausnahmen?
Ja, wenn jemand so stark beeinträchtigt ist, dass er oder sie keine eigene Entscheidung treffen kann.

Was ist mit Barrierefreiheit?
Noch nicht alle Wahllokale sind barrierefrei. Es gibt Verbesserungsbedarf.

Wie können Menschen mit Behinderung unterstützt werden?
Es gibt Infoveranstaltungen und Begleitung zum Wahllokal. Auch die Briefwahl ist eine gute Option.

Warum ist Wählen wichtig?
Wer nicht wählt, überlässt anderen die Entscheidung. Jede Stimme zählt!

Politikwissenschaftler Eric Simon setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderung einfacher am politischen Leben teilnehmen können. Deswegen ist er Experte bei dem Infoabend im betreuten Wohnen des diakonischen Trägers „Atrio“ (Weil der Stadt und Leonberg). Dort sind etwa zehn Menschen mit geistiger Behinderung zusammengekommen, um über die Wahl zu sprechen.

Es geht um grundlegende Fragen:

  • Warum gibt es Wahlen?
  • Wie wähle ich?
  • Wer kandidiert in meinem Wahlkreis?
  • Und was macht der Bundestag eigentlich?

Die Antwort „Streiten!“ sorgt für Gelächter.

Inklusion bedeutet mehr als wählen dürfen

Für Eric Simon endet Inklusion nicht beim Wahlrecht.

Eric Simon trägt ein blaues Hemd und eine Jeanshose
Achim Stadelmaier
Eric Simon ist Politikwissenschaftler und spricht mit Menschen mit Behinderung über die Bundestagswahl.

„Als Mehrheitsgesellschaft haben wir eine Bringschuld“, sagt er. „Menschen mit Beeinträchtigungen tun sich oft schwer, sich selbstständig Informationen zu beschaffen.“ Aber das heiße nicht, dass das bei allen so ist: Einige der Teilnehmenden hören eher zu, während andere viel Vorwissen haben und klare Vorstellungen darüber, was ihnen wichtig ist.

Michael Müller zum Beispiel weiß genau, worauf es ihm ankommt: „Inklusion, Gerechtigkeit, Demokratie!“ Er nimmt das Wählen sehr ernst: „Was manche Parteien machen wollen, ist nicht richtig.“ Namen nennt er zwar nicht, aber dass er kein Fan der AfD ist, wird schnell klar. Neulich war er auf einer Demo gegen Rechts und hat schon Briefwahl beantragt. Am Wahltag fährt er mit seiner Gruppe nach Berlin – eine SPD-Kandidatin hat sie eingeladen. „Ich freue mich schon sehr auf den Bundestag.“

Wählen mit Hilfe

Wer keine Briefwahl macht, bekommt Hilfe. Mitarbeiterin Rebekka Pälmer organisiert einen gemeinsamen Ausflug zum Wahllokal.

Erika Dehm will das Angebot nutzen: „Viele sagen, die Wahl interessiert mich nicht, aber es ist wichtig!“ Sie hofft, dass Politiker*innen sich besser um die Belange von Menschen mit Behinderung kümmern. Ob sich nach der Wahl etwas ändert? Erika ist unsicher, aber nicht zu wählen kommt für sie nicht infrage. „Das gehört sich einfach.“

Zu wenig inklusive Wahllokale

Barrierefreie Wahllokale gibt es leider noch nicht überall. „Da müssen wir noch mehr tun“, sagt Eric Simon. Beispielsweise Orientierungslinien auf dem Boden könnten blinden Menschen helfen, sich besser zurechtzufinden. „An solchen Dingen zeigt sich, ob die Gesellschaft ein wirkliches Interesse hat“, dass alle mitmachen können.

Hat die Politik in Berlin Menschen mit Behinderung auf dem Schirm? „Ja“, sagt Simon. Aber soziale Themen spielen in Wahlkämpfen oft nur eine kleine Rolle

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Das inklusive Wahlrecht

Seit dem 15. März 2019 gilt: Alle Menschen, die auf Betreuung angewiesen sind, dürfen wählen. Das betrifft etwa 80.000 Menschen in Deutschland. Eine Ausnahme gibt es nur, wenn jemand so stark in seiner Willensbildung eingeschränkt ist, dass er oder sie das Wahlrecht gar nicht ausüben kann. Das entscheidet der Einzelfall

Dass Betreuer*innen manchmal Einfluss auf die Entscheidung nehmen könnten, lasse sich nicht ganz ausschließen. Aber das ändere nichts daran, wie wichtig es ist, dass alle mitmachen können. Eric Simon ist sich sicher: „Eine Wahl ist für alle da!“