Selbstfindung mit Klapperschlangen

Wandern gegen den drohenden Burnout: Auf dem Pacific Crest Trail

Gregor Dellemann
Sonnenaufgang am Crater Lake, Oregon

Gregor Dellemann ist Physiker, Technologie-Manager und Familienvater - und steuert mit Ende 40 auf ein Burnout zu. Die Heilung wird zu einem Abenteuer, das er sich noch vor 10 Jahren niemals zugetraut hätte…

„Ich wusste: Wenn ich so weiter mache, dann bringt mich das im besten Fall in die Burnout-Klinik - im schlechtesten Fall darüber hinaus“, sagt Gregor nachdenklich.

Um das Jahr 2020 herum bemerkt der studierte Physiker, dass er so nicht weiter machen will - und auch nicht kann. „Nach außen“ ist eigentlich alles okay bei ihm: Studium am MIT, Haus, Frau, drei Kinder, ein guter, sicherer Arbeitsplatz in einer großen Firma. „Ich hatte in meiner Aufgabe das gegeben, was ich geben konnte. Und musste schauen, welche Ressourcen ich noch hatte. Und ich war der Meinung, dass diese Bilanz für mich nicht mehr aufgeht.“

Angst vor dem „Totarbeiten“

Die 50 bis 60 Arbeitsstunden pro Woche waren nicht das Hauptproblem, erzählt der heute 52-Jährige. Seine damalige Arbeit beschreibt er als „anstrengend, aber auch sehr erfüllend“. Aber was, wenn die Erfüllung plötzlich nicht mehr da ist?

Erstmal: Einfach weiter machen. „Ich hab das bis an einen Punkt getrieben, wo es mir selber nicht mehr gut ging.“ Dazu kommen Mitte 40 die ersten körperlichen Abnutzungserscheinungen: Thrombosen, Bandscheibenvorfall.

Mir wurde klar: Mein Körper geht langsam kaputt, wenn ich da nichts mache. 

Meine Art, zu leben und zu arbeiten, geht auf Kosten meiner Substanz. Das war ein Wendepunkt.“ Und Gregor erlebt, dass sich Menschen buchstäblich tot arbeiten. „Ein Kollege ist mit einer Lungenentzündung dienstlich ins Flugzeug gestiegen. Die ist auf dem Flug schlimmer geworden. Er ist in einem fremden Land, in einem Hotelzimmer, elendig gestorben“, erinnert sich Gregor.

Mit seinem Chef vereinbart er ein „Sabbatical“, eine einjährige Auszeit, ohne Lohn.

Pacific Crest Trail: 4.200km langes Monster

Gregor mit blauem Shirt und Strohhut lehnt gegen den PCT-Midpoint-Stein
Gregor Dellemann
Gregor am Midpoint des PCT

Gemeinsam mit seinem Physiotherapeuten trainiert Gregor auf das noch schwammige Ziel im Kopf hin: eine lange Wanderung.

Ungefähr zehn Jahre vorher liest er, wie unzählige andere, das Buch „Der große Trip“ von Cheryl Strayed. In dem Bestseller erzählt die Autorin von ihrer Wanderung über den Pacific Crest Trail („PCT“).

„Ich hab das damals als ein Buch über persönliche Veränderung gelesen. Die Autorin beschreibt aber auch die lange Wanderung, und ich dachte mir: never fucking ever!“, sagt Gregor lachend.

Den Pacific Crest Trail (PCT) meistern?

Einige Jahre später sieht er die Herausforderung etwas anders. Für zusätzliche Moitvation, selbst ein Abenteuer zu erleben, sorgt Gregors Nachbar: „Der ist aus dem Schwabenland nach Shanghai gefahren - mit dem Fahrrad.“ Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist der „Vogel“ in Gregors Kopf nicht mehr tot zu kriegen. Der amerikanische Westen ruft ihn.

Amerikanische Wildnis als Selbstfindungstrip

Buch „Der große Trip“

Der PCT ist ein Monster - verglichen zum Beispiel mit den hiesigen Pilgerwegen, wie den Jakobswegen in Spanien. 4.200 Kilometer Länge, von Mexiko bis Kanada. Es gibt keine Herbergen auf dem Weg. Er folgt immer den Bergen, daher auch der Name: „Pacific Crest“ heißt „Pazifik-Gipfel“. Sein höchster Punkt ist über 4.000 Meter hoch.

„Er geht komplett durch die Wildnis. Da sind vielleicht zwei Orte auf dem Weg, ansonsten ist das ein Trampelpfad durch Wald, Hochgebirge und Wüste“, sagt Gregor. „Circa einmal die Woche kommt man an eine Querstraße, von der aus kann man dann per Anhalter in die nächste Stadt, wenn man will“.

PCT: teure Vorbereitung und teures Rasten

Diese Auszeiten in Städten sind auch finanziell relevant. Gregor rechnet: „Die Ausrüstung kostet etwa 1.500 bis 2.000 Euro. Rucksack, Zelt, Schuhe, Kleidung, alles in ultraleichter Ausführung. Dazu kommen die Flugtickets.“ Trotzdem sind die „günstigsten“ Wander*innen auf dem PCT mit etwa 1.000 Dollar im Monat dabei. 

Richtig teuer sind die Ruhetage in den Städten. Hotel, richtig Essen gehen und so weiter“, erzählt der Baden-Württemberger. In der Heimat fehlt ihm übrigens das amerikanische Frühstück: „Morgens Eier mit Tofu und Zwiebeln, Kartoffeln und einer scharfen Soße, das ist schon geil“, sagt der Vegetarier grinsend.

Die Versorgung auf der Tour ist trickreich: Auch in kleineren Ortschaften in der Nähe des PCT gibt es oft keinen Supermarkt. Die Lösung: „Postämter“, sagt Gregor. Jeder noch so kleine Ort hat eins. Und der vorbereitete Wanderer schickt sich selbst Pakete mit Essen und Ausrüstung an die Poststationen, die zumindest einigermaßen auf dem Weg liegen. 

Und was ist das Gefährlichste auf der Tour? „Das Wetter“, weiß Gregor. Er hatte zum Beispiel Glück, was Schnee angeht - er war in einer relativ schneearmen Zeit unterwegs. Aber einmal wird er zum Beispiel von einem „trockenen Gewitter“ quasi verfolgt. „Es hat stundenlang geblitzt und gedonnert, aber nicht geregnet. Was soll man dann machen? Nicht auf freier Fläche und nicht unter einem Baum stehen. Sich irgendwo hinlegen und warten, bis das vorbei ist. Aber es war kalt, „ich hatte nicht unendlich Wasser dabei - das ist dann schon eine Herausforderung“.

Aber auch Waldbrände sind ein Thema: Wer den PCT wandert, muss up to date bleiben, wo es brennt oder brennen könnte, um nicht in ein Feuer zu laufen. „Auf der Strecke brennt's immer irgendwo“, sagt Gregor unironisch. Teilweise wandert er tagelang über verbrannte Erde, durch staubige Asche.

Die Wander*innen warnen sich gegenseitig in entsprechenden Plattformen im Internet. Dort tauschen sie sich zum Beispiel auch darüber aus, welche Wasserquellen momentan nutzbar sind - oder eben auch nicht.

Wildlife auf dem PCT: Klapperschlange, Schwarzbär & Co.

gut getarnte Klapperschlange auf steinigem Boden
Gregor Dellemann
Klapperschlange im Weg

Und wilde Tiere? Der Betriebswirt hat sie getroffen. „Ich hab gelernt: Man muss respekvoll mit den Tieren umgehen. Sich in sie reindenken. Bei einer Klapperschlange bedeutet das: die will nicht von mir getreten werden. Deswegen klappert die.“ Die Lösung: einen Schritt zurück, fünf Meter Abstand und Augenkontakt mit dem Tier halten, langsam einen Bogen um sie machen. Weitergehen. „Das hat bei jeder Klapperschlange funktioniert.“ 

Nur bei einer nicht - die war auf dem schmalen Wanderweg nicht zu umkreisen. Gregor versucht, mit seinem Wanderstab nachzuhelfen: „Ich sehe zum ersten Mal, wie schnell sich Klapperschlangen bewegen, wenn sie zubeißen. Keine Chance, da noch zu reagieren.“ Gregor wirft am Ende - vorsichtig - kleine Steinchen - und das Schuppenkriechtier schlängelt sich weiter ins schützende Gras.

Auch die Begegnung mit einem Schwarzbären ist Gregor im Kopf geblieben. Schwarzbären sind keine Grizzlys, aber mit einem knappen Meter Höhe und 100 Kilo Kampfgewicht trotzdem eine beeindruckende Erscheinung. „Ich bog um eine Ecke, und 30 Meter weiter stand ein Schwarzbär so an einen Baum gelehnt. Er guckte mich so an, als wollte er sagen:

Was willst du denn hier?

„Ich habe gelernt: wenn ich jetzt weglaufe, setzt bei ihm der Jagdreflex ein.“ Also: Stehenbleiben, groß machen, zeigen: ich bin keine Gefahr für dich, hab aber auch keine Angst vor dir. „Laut sein - viele Wanderer singen in den Wäldern, um den Tieren zu zeigen, dass sie da sind. Ich hab einfach laut geredet. Und dann ist er nach einer Weile zurück in den Wald getrottet.“

Geburtstag auf dem PCT

21 Wochen ist Gregor unterwegs. Läuft in dieser Zeit 2.500 Kilometer, feiert seinen 50. Geburtstag mit einem wunderschönen Sonnenaufgang, trifft Menschen - nicht nur in den wenigen Orten, sondern auch auf dem Weg. „Das ist immer etwas Besonderes. Es gibt auf dem Weg nicht so viele Leute.“ Seine Erlebnisse, viele Bilder und Eindrücke hat Gregor in seinem Blog festgehalten.

Selbstfürsorge beim Laufen

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Auf seinem Trip hat sich Gregor neu selbst kennen gelernt. „Eine kindliche Freude am neu Entdecken, am Erleben, ich würde auch sagen am 'Spielen', ist mir total wichtig geworden - und soll auch weiter in meinem Leben ihren Platz haben“, sagt er. Er hat seinen alten Job verlassen und arbeitet heute freiberuflich als Berater. „Früher hatte mein Arbeitgeber eine Flatrate auf mein Leben, könnte man sagen. Jetzt habe ich die Kontrolle, wie viel ich arbeite und mit wem.“

Was sagt er Menschen, die den PCT selbst kennenlernen wollen?

„Mir sind viele Leute begegnet (vorher, hinterher, unterwegs), die mir erzählt haben: Ich find das super, was du machst, ich würde es auch gerne machen, ABER.“ Als Gründe hört er:

  • das geht mit meiner Familie nicht
  • ich hab das Geld nicht
  • ich hab die Zeit nicht
  • ich hab den falschen Job
  • es ist die falsche Lebensphase
  • und so weiter…

„Das sind alles Gründe. Aber: Ich hab mein Leben nur einmal“, sagt Gregor. Er ist sich sicher: „Wenn ich sowas machen will, dann muss ich mich irgendwann einfach mal auf den Weg machen.“ Sein Eindruck war, „dass diese Gründe vielen Menschen vor allem dazu dienten, sich vor sich selber zu entschuldigen“. Er findet es schade, wenn sie dann das, „was ihr Traum ist, letzten Endes doch nicht machen“.