Sport und Gewalt

Kein Einzelfall: Gewalterfahrungen im Sport

Mädchen kümmert sich zusammen, zwischen ihren Beinen ein Basketball
gettyimages/mikimad
Gewalterfahrungen im organisierten Sport sind keine Einzelfälle.

Als Kind wurde Marie monatelang von ihrem Judotrainer missbraucht. Bis sie sich wehrte. Gewalterfahrungen im Sport sind kein Einzelfall.

Wenn der Brechreiz kam, wusste sie, dass es vorbei ist. Dann fiel die Anspannung ab, die Marie Dinkels Körper zuvor während der Panikattacke zusammengeschnürt hatte. Bei der sie auf dem Boden saß, nach vorne und hinten wippte, und schrie.

Gewalt im Sport: Die schlimmste Erfahrung ihres Lebens

Marie Dinkel
privat
Marie Dinkel ist 13 Jahre alt. Der Trainer, der sie missbrauchen wird, ist ihr Lieblingstrainer.

Der psychische Ausnahmezustand, den Marie Dinkel an einem Abend in einem  Videogespräch schildert, ist Teil der schlimmsten Erfahrung ihres Lebens. Dinkel, 24 Jahre alt, blauer Pullover, die Haare zu zwei Zöpfen geflochten, sitzt in ihrer Wohnung in der Schweiz. Dorthin ist sie vor eineinhalb Jahren mit ihrem Ehemann gezogen.

Sie berichtet von dem sexuellen Missbrauch durch ihren einstigen Judo-Trainer, den sie als Kind erleben musste. Er hat tiefe Narben auf ihrer Seele hinterlassen.

Vom Judotrainer sexuell missbraucht

Über die sexuellen Übergriffe hat Marie Dinkel bereits öffentlich gesprochen. Unter anderem bei einem öffentlichen Hearing der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs. Diese wurde 2016 durch einen Beschluss des deutschen Bundestages einberufen. Die Kommission will Sportlerinnen und Sportlern, die sexuelle Gewalt erlitten haben, eine Plattform geben.

Marie hat für das Interview ein schnurgebundenes Headset in den Ohren. Sie schaut gerade in die Kamera
Sebastian Theuner

Gewalt im Breitensport ist weit verbreitet

Marie Dinkels Schicksal ist kein Einzelfall. Gewalt im Sport ist in Deutschland verbreitet. Sie findet im sexuellen, körperlichen und seelischen Kontext statt.

Im Herbst 2019 wurde ein Fußballschiedsrichter bei einem Amateurspiel im hessischen Münster bewusstlos geschlagen. Im November 2020 warfen im Magazin Spiegel mehrere Turnerinnen am Olympiastützpunkt Chemnitz einer Trainerin verbale Erniedrigungen und die unerlaubte Verabreichung von Medikamenten vor.

Studie „SicherimSport“ belegt: Gewalterfahrungen sind keine Einzelfälle

Breitensport-Studie „SicherimSport“

Bei der Studie wurden über 4.300 Vereinsmitglieder befragt. Rund 300 Sportverbände waren beteiligt. Dabei kam heraus, dass die häufigste Gewalterfahrung psychisch ausgeübt wurde: in Form von Erniedrigungen, Bedrohungen oder Beschimpfungen. Davon berichten 63 Prozent der Befragten. Die Studie wurde gemeinsam vom Universitätsklinikum Ulm, der Sporthochschule Köln und der Bergischen Universität Wuppertal gemacht. Der LSVBW hat die Studie gemeinsam mit zehn weiteren Landessportbünden gefördert.

In einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln von 2016 wurden 1.800 deutsche Kaderathlet:innen über 16 Jahre zu ihren Erfahrungen sexualisierter Gewalt im Sport befragt. Etwa ein Drittel gab an, bereits entsprechende Erfahrungen gemacht zu haben. Auch der Abschlussbericht der bundesweit größten Breitensport-Studie „SicherimSport“ beschreibt Gewalt im Sport

Forderung: Besserer Schutz für Sportler:innen bei Gewalterfahrungen

Der Bericht hält Schutzkonzepte und klare Anlaufstellen für alle Sportvereine für dringend erforderlich. Gewalterfahrungen im organisierten Sport seien eindeutig keine Einzelfälle, teilte der Landessportverband Baden-Württemberg (LSVBW) mit. Mädchen und Frauen machten wesentlich mehr negative Erfahrungen als männliche Mitglieder.

Trotz dieser Erfahrungen betonten neun von zehn Betroffenen ihre allgemein guten bis sehr guten Erfahrungen mit dem Vereinssport. Vereinsmitglieder mit höherem Leistungsniveau, etwa bei nationalen und internationalen Wettkämpfen, und solche mit längeren Trainingszeiten seien stärker von Gewalt betroffen als solche im Freizeitsport.

Auch der  „Dritte Sportethische Fachtag“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Evangelischen Akademie Frankfurt hatte sich 2021 mit „Sport und Gewalt“ auseinandergesetzt. 

Sexualisierte Gewalt im Sport

„Über Gewalt im Sport zu sprechen, war einfach dran“, sagt Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und damaliger Sportbeauftragter der EKD. Er glaubt, dass gerade „starke Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Sportlern und Trainern zu unterschiedlichen Formen von Gewalt führen“ können. Bei Marie Dinkel war das so.

Marie ist sechs Jahre alt, als sie mit dem Judo anfängt. Ihrem Vater war es wichtig, „dass ich mich als Mädchen selbst verteidigen kann.“ Er meldet seine Tochter beim TV Gladenbach an, einem Verein in Mittelhessen, zehn Autominuten von zuhause entfernt.

Er war mein Lieblingstrainer.

Marie Dinkel
privat
Heute kämpft Marie dafür, dass junge Menschen ihr Schicksal nicht erleiden müssen. Sie ist jetzt selbst Trainerin.

Marie Dinkel ist talentiert, mit 13 erhält sie gemeinsam mit zwei anderen Mädchen ein Sondertraining. Das Training findet immer samstagnachmittags statt, in „einem kleinen, separaten Raum einer Schulturnhalle, zu dem man über einige Treppenstufen gelangte“, erinnert sich Marie.

Der Trainer, der die Einheiten leitet, ist damals Anfang vierzig. Im Spiegel-Magazin wird er Klaus L. genannt, in Wahrheit heißt er anders. „Er war zu diesem Zeitpunkt mein Lieblingstrainer, ich hatte ein riesiges Vertrauen zu ihm“, erzählt Marie. Über den Missbrauch haben die drei Mädchen untereinander nie gesprochen. Irgendwann aber beginnen sie stillschweigend, sich vor dem Training gegenseitig die Judohosen so fest wie nur möglich zuzuschnüren.

Von gewaltätigen Übergriffen mitten im Training

Marie Dinkels Erinnerungen an die Zeit sind klar. Sie weiß noch genau, wie Klaus L. bei einem Übungskampf auf ihr sitzt. „Er hatte mit seinem Becken meine Hüfte fixiert. Dann hat er sein Gewicht nach vorne verlagert. Mit seinen Händen ist er an meinem Rücken entlang in die Hose und in die Unterhose eingedrungen.“ Dinkel spricht mit fester Stimme, verdeutlicht den Ablauf des Ungeheuerlichen durch Gesten mit ihren Händen.

Sie habe neben sich gestanden in jenem Moment, nichts sagen können. Wie versteiert sei sie gewesen. Es blieb nicht bei dem einen Mal. Wieder ist ihr Mund wie versiegelt. Obwohl dieses Mal noch etwa 20 andere Sportler in der Halle sind, ahnt niemand etwas.

Es dauert ein halbes Jahr, bis Marie nicht mehr schweigen kann und zu ihrer Mutter sagt: „Mama, der Klaus fasst uns komisch an.“ Ihre Eltern handeln. informieren den Verein, Klaus L., der auch Lehrer ist, erhält Hausverbot.

Enorme Dunkelziffer bei Gewalterfahrungen im Sport

 „In den Vereinen muss es Leute geben, die wissen, wie man mit so einer Situation umgeht“, sagt Christine Bergmann, Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Die ehemalige Bundesfamilienministerin rät Betroffenen, sich über Hilfetelefone Unterstützung zu holen, falls keine Vertrauensperson zur Verfügung steht.

Ziel der Kommission ist es, sexuellen Kindesmissbrauch in allen gesellschaftlichen Bereichen zu untersuchen. Gerade im Sport sei die „Dunkelziffer enorm“, sagt Bergmann.

Ihr Mann bestärkte Marie Dinkel darin, sich an die Kommision zu wenden, ihr Schicksal öffentlich zu machen. Nicht alle Betroffenen können dies. Das müssen sie auch nicht, wer will kann gegenüber der Kommission anonym bleiben.

„Es ist stark, wenn man darüber redet!“

Als die junge Sportlerin 18 Jahre alt ist, erfährt sie, dass Klaus L. nach wie vor als Lehrer arbeitet und Judokurse gibt. Immer wieder bekommt sie Panikattacken. Um mit der Anspannung und den eigenen Schuldgefühlen umgehen zu können, beginnt sie, sich mit einem Bügeleisen zu verbrennen. Erst eine Therapie Jahre später bringt Besserung.

Heute gehe es ihr gut, sagt sie. Den Leidensdruck aber spürt sie noch immer.

Dem Judo ist die junge Frau treu geblieben. Für den JSV Rammenau startet sie in der 2. Bundesliga, gleichzeitig ist sie Trainerin. Wer wie sie von sexuellem Missbrauch betroffen ist, brauche sich „nicht schämen. Es ist stark, wenn man darüber redet!“ 

Sie will Ansprechpartnerin sein, für Sportler:innen, die dasselbe erleiden müssen, da sein. „Mir hätte das damals geholfen, mit jemandem zu reden, der auch betroffen war.“ Bei ihrem ehemaligen Verein, TV Gladenbach gibt es inzwischen zwei Kindesschutzbeauftragte, einer von ihnen ist Ben, Maries Bruder.

Hilfe bei Gewalterfahrungen im Sport

Wenn du selbst von Gewalt betroffen bist, dann ist es wichtig, über die erlebte Gewalt zu sprechen. Das muss nicht öffentlich sein und auch nicht mit den Eltern, wenn du nicht willst. Aber beim Hilfetelefon des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs kannst du kostenlos und anonym anrufen: 0800-2255530.

Seit 2022 gibt es auch die Beratungsstelle Anlauf gegen Gewalt für Menschen im Leistungssport. Du kannst unter 0800-9090444 auch bei Anlauf gegen Gewalt anrufen, oder den Verein auch via E-Mail anschreiben. 

Akut kannst du dich natürlich auch rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden. Unter 0800-11101110800-1110222 oder 116123 sowie Online erreichst du jederzeit Menschen, die dir zuhören.

Forderungen an die Vereine

Marie Dinkel kämpft dafür, „dass niemand das Gleiche durchmachen muss, wie ich.“ Doch immer wieder erlebt sie, dass die nötige Sensibilisierung fehlt. Konkret fordert sie:

  • Trainingshallen sollen immer öffentlich zugänglich sein und
  • Trainer:innen sollten sich schulen lassen.

Seit sie den TV Gladenbach verlassen hat, informierte sie die Menschen in neuen Vereinen stets über den erlebten Missbrauch. So will sie die eigenen Verhaltensweisen in unangenehmen Situationen nachvollziehbar machen. Ein Trainer, der von ihrem Missbrauch wusste, habe Jahre später einmal im Bodenkampf zu ihr gesagt: „Die Position gefällt mir gut. Aber nicht auf der Matte, sondern im Bett.“

Breitensportstudie zeigt, dass Gewalt im Sport aktuell bleibt

„SicherimSport“-Projektleiter Marc Allroggen vom Universitätsklinikum Ulm sagte, kein Verein könne sich darauf berufen, dass es sich um Einzelfälle handle. Oder es seien nur wenige Vereine betroffen. Die Tendenz scheint sogar zuzunehmen. Die Daten zeigen, dass Befragte bis 30 Jahre deutlich häufiger von Gewalterfahrungen im Sportverein berichten als ältere Mitglieder.

Andreas Schmid, ehrenamtlicher unabhängiger Beauftragter zum Schutz vor sexualisierter Gewalt im Sport des LSVBW, hält es für bedenklich, dass nach den  vorliegenden Ergebnissen nur die Hälfte der befragten Sportverbände über nach außen sichtbare Kontaktmöglichkeiten für Betroffene verfüge.