Terror in Hanau

Hanauer Bildungsinitiative Ferhat Unvar wächst

epd-bild/Thomas Lohnes

Der rassistische Anschlag von Hanau 2020 ist vor Ort noch lebendig. Eine betroffene Mutter hat ihren Schmerz in eine Kraft für andere verwandelt.

„Ich erlebe den Tag immer wieder“, berichtet Serpil Temiz Unvar. „Jeden Tag denke ich: Ferhat wird noch soundsoviele Tage zu leben haben bis zum 19. Februar.“ An jenem Abend vor drei Jahren erschoss ein Mann in Hanau kaltblütig acht junge Männer und eine Frau, alle Migranten.

Unvar verlor ihr ältestes Kind, Ferhat war 23 Jahre alt. „Letztes Jahr habe ich am 19. Februar drei Schlaftabletten genommen, um zu vergessen. Ich konnte trotzdem nicht schlafen“, sagt sie. Ihren Job bei einem kurdischen Magazin gab sie nach dem Anschlag auf. Aber sie versank nicht im Schmerz.

Aus Ferhats sinnlosem Tod etwas Sinnhaftes machen

„Zwei bis drei Tage danach sagte ich mich mir: diese Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein“, erzählt die alleinerziehende Mutter von vier Kindern. „Ich will aus Ferhats sinnlosem Tod etwas Sinnhaftes machen. Dann hat sich Ferhats Aufgabe in dieser Welt vielleicht erfüllt.“

Sie erinnere sich sonst nicht an Träume, sagt Unvar, aber einen Traum habe sie klar vor Augen: Sie will zu ihrem Sohn gehen, der in Gesellschaft anderer Jugendlicher ist. Er nickt ihr zu, sagt aber, er müsse erst seine Aufgabe erledigen. „Vielleicht fängt Ferhats Aufgabe mit seinem Tod an“, sinnt seine Mutter mit feuchten Augen. „Ich muss diese Aufgabe erledigen.“

Serpil Temiz Unvar, Gründerin der Bildungsinitiative Ferhat Unvar
epd-bild/Thomas Lohnes
Serpil Temiz Unvar, Gründerin der Bildungsinitiative Ferhat Unvar

Niemand solle mehr fragen müssen: „Warum werden Menschen getötet, weil sie anders aussehen? Warum werden Kinder an den Schulen benachteiligt, weil sie eine andere Haut- und Haarfarbe haben?“ Die Mittvierzigerin hat von der Diskriminierung ihrer eigenen und anderer Kinder an Schulen erfahren.

Ein Lehrer habe Ferhat nach einem Vorfall verdächtigt: „Du hast dunkle Haare - das kannst Du gewesen sein.“ Über seinen Bruder habe ein Lehrer gesagt: „Ihr Kind hat keine Chance an dieser Schule.“ Der Sohn habe die Schule gewechselt und ein Abitur mit 1,8 gemacht, heute studiere er. Sechs Monate nach dem rassistischen Anschlag beschloss Unvar, eine Bildungsinitiative zu gründen.

Spendenkonto für die Bildungsinitiative Ferhat Unvar

Das Landesprogramm „Hessen - aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“ finanziert seit vergangenem August drei halbe Stellen, die anderen werden durch Spenden getragen. Auch die zunächst durch Spenden aufgebrachte Miete wird seit August durch das Programm gedeckt.

Bildungsinitiative Ferhat Unvar
DE54 5065 0023 0010 2989 33
BIC: HELADE1FHAN
Sparkasse Hanau
Verwendungszweck: „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“

An Ferhats Geburtstag, dem 14. November, rief sie 2020 die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ ins Leben. Ihr Anliegen sei, Lehrkräfte und Eltern dafür zu sensibilisieren, dass Schülerinnen und Schüler sich nicht alleingelassen fühlten, sagt Serpil Temiz Unvar.

Kinder von Migranten sollten keinen Alltagsrassismus mehr erfahren. „Ich will Jugendliche empowern, dass sie für eine gemeinsame Zukunft arbeiten.“ In den beiden Räumen der Initiative am Freiheitsplatz gehen junge Erwachsene, Schülerinnen und Schüler ein und aus, die Eintretenden und die Gründerin umarmen sich.

„Ich liebe alle Jugendlichen“, sagt Unvar und strahlt. „Ich sehe Ferhat in den Jugendlichen. Er lebt mit ihnen. Deshalb kann ich weiterleben.“ Manche würden ihr gestehen: „Du hast meinem Leben eine neue Richtung gegeben“, „Wegen dir mache ich eine Ausbildung“ oder „Ich habe mich verlobt“. Inzwischen unterstützen fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Teilzeitstellen die Gründerin, die Freunde von Ferhat und die freiwillig Engagierten.

Gegen Diskriminierung im Ehrenamt

„Wir arbeiten 24 Stunden am Tag für dieses Land“, sagt Unvar. Eine Hilfe wäre es, wenn die Initiative langfristig unterstützt würde und nicht ständig einen Papierberg an Projektanträgen bewältigen müsse.

Die Initiative hat ein Workshop-Konzept für Schulklassen ab der siebten Klassenstufe und für Jugendgruppen ausgearbeitet. Themen sind Antidiskriminierung und der Anschlag vom 19. Februar.

Im vergangenen Jahr habe die Initiative 60 Workshops gegeben, für kommenden März seien schon zwölf gebucht. In diesem Jahr werde ein Konzept für Grundschulen erarbeitet. Daneben bietet die Initiative Workshops für Lehrkräfte und Eltern an. Ferner erarbeitet sie zusammen mit einer Frankfurter Soziologie-Professorin ein Modul über Rassismus im Lehramtsstudium.

Banner mit den Porträts der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau am 19. Februar 2020
epd-bild/Rolf Zoellner
Demo 2021 in Berlin: Banner mit den Porträts der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau am 19. Februar 2020

„Die Schule ist ein wichtiger Schlüssel, um Rassismus zu erlernen oder zu verlernen“, sagt Unvar. Die Hanauerin mit kurdischen Wurzeln ist dabei, Beziehungen zu ähnlichen Initiativen in anderen Ländern zu knüpfen.

„Ferhat hätte zu mir gesagt: Bist du bescheuert? Meinst du, du kannst etwas ändern?“, sagt sie. „Aber er hätte trotzdem gewollt, dass ich weitermache."