Am 19. Februar 2020 ermordet in Hanau ein 43-Jähriger neun junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Sechs weitere wurden verletzt, am Ende tötet er seine Mutter und sich selbst. Die Rechercheagentur Forensic Architecture hat die Daten verschiedener Überwachungskameras vor Ort, der Notrufprotokolle der Nummern 110 und 112, vom Polizeihubschrauber und von Zeugenaussagen zu einer sekundengenauen Übersicht zusammengestellt.
Was geschah am 19. Februar 2020 in Hanau?
Wie hat der Anschlag das Leben in Hanau verändert?
Welche Rolle spielte der Untersuchungsausschuss des Landtags und was kam dabei heraus?
Hanau ist überall: Welche Rolle spielten Rassismus und Diskriminierung?
Der Anschlag ereignete sich an zwei verschiedenen Orten: zunächst in der Innenstadt und später in einer Bar im Stadtteil Kesselstadt. Die Tat war rassistisch motiviert und der Täter besaß die Waffen legal aufgrund seiner Mitgliedschaft in Schützenvereinen.
Und so ging es dnach weiter:
Der Anschlag hat tiefe Spuren hinterlassen. Auch fünf Jahre später noch leben noch Menschen in Hanau mit Ängsten. Das Sicherheitsgefühl habe gelitten, sagt Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Hinterbliebenen der Opfer leben mit ihrer Trauer. Einige treffen sich regelmäßig, um sich auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen.
Serpil Temiz Unvar, die Mutter von Ferhat Unvar, hat noch im Jahr des Anschlags eine Bildungsinitiative gegründet. Antirassistische Aktivist*innen haben die Initiative 19. Februar Hanau ins Leben gerufen. Du kennst vielleicht ihren Slogan „Say their names“ (Sagt ihre Namen). Damit haben sie die Opfer in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Haben Polizei und Behörden versagt? Hätte der Anschlag verhindert werden können? Um diese Fragen zu klären, setzte der Hessische Landtag einen Untersuchungsausschuss ein. Der Abschlussbericht erschien im November 2023.
Der Bericht kommt zu dem Fazit: Der Anschlag habe nicht verhindert werden können. Allerdings hätten verschiedene behördliche Maßnahmen den Tathergang möglicherweise beeinflussen können. Dazu gehören insbesondere:
die Erteilung zum Waffenbesitz für den Täter
die Erreichbarkeit des polizeilichen Notrufs
der Umgang mit den Angehörigen der Opfer
der verschlossene Notausgang der „Arena Bar“
Die Sicherheitsbehörden hatten laut Bericht keine Möglichkeit dazu, die Gefahr durch den Täter frühzeitig zu erkennen. Der Ausschuss stellte jedoch Mängel bei der Überprüfung der Waffenerlaubnis fest. Außerdem warf er der Stadt Hanau vor, ihre Schutzpflicht gegenüber den Bürger*innen nicht ausreichend erfüllt zu haben.
Der Notruf der Polizeistation Hanau entsprach nicht dem technischen Standard anderer Dienststellen. Da die Polizei keinen Notrufüberlauf, also eine Weiterleiterleitung hatte, konnten Notrufe nicht entgegengenommen werden. Das könnte insbesondere für das Mordopfer Vili Viorel Paun relevant gewesen sein. Er verfolgte den Täter und versuchte erfolglos die Polizei zu informieren.
Die Fraktionen von CDU, SPD, Grünen und FDP baten in einem gemeinsamen Vorwort die Überlebenden und Angehörigen der Opfer um Entschuldigung. Zudem gab es separate Berichte der SPD, AfD, FDP und Linken mit abweichenden Einschätzungen.
Der Untersuchungsausschuss forderte strukturelle Verbesserungen. Besonders wichtig sei eine bessere Notrufannahme, strengere Kontrollen bei Waffenbesitzkarten und mehr Schutz von Versammlungsstätten. Die Debatte über die politische Verantwortung und mögliche Konsequenzen hält weiterhin an.
„Hanau hat gezeigt, was möglich ist, wenn Angehörige zusammenstehen“, sagt Hagen Kopp von der Initiative 19. Februar Hanau. Allerdings lasse ihnen keine Ruhe, dass für die Fehler von Behörden und der Polizei niemand juristisch zur Verantwortung gezogen wurde.
Rassismus und Diskriminierung führten zu diesem Anschlag, da der Täter aus rassistischen Motiven handelte. Die Tat zeigt, dass diese Probleme in Deutschland weiterhin bestehen. Viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte berichten von täglichen Diskriminierungserfahrungen.
Die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straftaten sind laut Verfassungsschutz seit 2023 noch einmal deutlich um mehr als 20 Prozent angestiegen. Betroffene fordern, dass sich die Gesellschaft und die Politik entschieden gegen Rassismus positionieren und sich für Toleranz und Vielfalt einsetzen sollen.
Die Aufarbeitung kam bisher vor allem von den Angehörigen und Betroffenen. Zum Jahrestag gab und gibt es aber auch stilles Gedenken, wie auch laute Demonstrationen. Vergangenes Jahr sagte der Extremismusforscher Matthias Quent gegenüber der tagesschau, dass es eine Verbindung zu den Demokratie-Demos geben würde. In Hanau gehe es „auch um das, wofür Hanau steht: Also für einen tiefer sitzenden Rassismus, für Probleme, die es in den Behörden gab. Für Probleme, die es in der Gesellschaft gibt, die diese Taten erst hervorbringen.“ Er erklärte, dass dieser Tätertypus sich vor allem auch über soziale Medien und das private Umfeld radikalisiert. „Es gibt die neue Rechte, es gibt diese allein handelnden Attentäter“, sagte er.
Rainer Becker, Leiter vom Demokratiezentrum Hessen in Hessen, hat sich auch intensiv mit den Anschlägen in Hanau und Halle und den Folgen auseinandergesetzt. Gegenüber dem Deutschlandfunk hat er betont, wie wichtig die ersten Signale der Verantwortlichen seien.
„Wichtig ist, dass Unterstützungs- und Hilfssysteme auch in der Lage sind, bestimmte Folgen beurteilen zu können“, sagte er. Das sei betonenswert, weil solche Taten keine Einzelfälle seien. Er nennt das „Botschaftstaten“, die bestimmte Bevölkerungsgruppen betreffen. Hanau sei ein extremes Beispiel dafür, was durch Alltagsrassismus passieren könne.
Doch wie geht eine Stadt damit um, wenn sie so tief getroffen wurde? Manche glauben, die Tat eines psychisch kranken Mannes habe nichts mit der Stadt zu tun und fordern, einen Schlussstrich zu ziehen. Andere sind tief betroffen, dass so etwas in ihrer Stadt passieren konnte. Es sei nicht leicht, nach einem solchen Anschlag gemeinsam zu trauern und wieder in den Alltag zu finden, beobachtet der evangelische Dekan Martin Lückhoff.
„Der 19. Februar ist in Hanau immer noch eine Narbe, die schmerzt“, sagt der Pfarrer. Es brauche Gespräche, und die evangelische Kirche wolle ein Ort sein, an der „Kommunikation erfolgt und gelingt“.
Ein Streit, der die Stadt über Jahre beschäftigt hat, wurde inzwischen beigelegt: Es ging um den Standort eines Mahnmals für die Opfer. Nach vielen Diskussionen hat man sich darauf geeinigt, den Platz vor dem geplanten „Haus für Demokratie und Vielfalt“ bis nächstes Jahr in „Platz des 19. Februar“ umzubenennen und dort das Mahnmal zu errichten.