Jüdisches Leben in Deutschland

Auseinandersetzungskultur statt Erinnerungsfloskeln

epd/Jens Schulze
In der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover lernt der jüdische Nachwuchs anhand gemalter Thorarollen etwas über die Religion.

Die Frankfurterin Laura Cazès ist die Enkelin polnischer Shoah-Überlebender. Jüdisches Leben in Deutschland sei mehr als Shoah und Synagoge. Warum? Das hat sie unsere Redakteurin Andrea verraten.

Du hast mal gesagt, das Wort Jüdin oder Jude löst Unwohlsein aus – nicht bei Dir, sondern im nicht-jüdischen Umfeld. Woran machst Du das fest?

Laura Cazès: Das Wort Jude in der deutschen Sprache ist extrem aufgeladen. Schülerinnen und Schülern fällt bei dem Begriff als erstes Rabbi oder Schabbat ein. Dann assoziieren es viele mit Bildern des Holocaust, es bewegt sich also zwischen Synagoge und Gaskammer. Es hat wenig zu tun mit der Vitalität jüdischen Lebens, mit der lebenden jüdischen Person, die vor einem sitzt. Die Bilder sind schwer zusammenzubringen.

Auch in renommierten Zeitungen kann man lesen: Sie ist Jüdin, er Engländer. Warum diese Unterscheidung?

Laura Cazès: In Deutschland brauchen wir Kategorien, in die wir Menschen einordnen können, gerade, wenn sie in irgendeiner Form von der vermeintlich gesellschaftlichen Norm abweichen. Jüdischsein gilt als ganz besonderes Exotikum in diesem Land. Wenn man eine lebende jüdische Person trifft, möchte man sie auch als solche labeln. Und zwar ganz unabhängig davon, ob die Person das möchte oder nicht. Ich mag es zum Beispiel nicht, so vorgestellt zu werden: Laura Cazès, Jüdin!

Warum nicht?

Laura Cazès: Ich bin auch jüdisch. Das bedeutet aber nicht nur, dass ich an etwas glaube. Nicht alle jüdischen Personen glauben an einen Gott oder bekennen sich zum jüdischen Glauben. Und dennoch empfinden sie sich als jüdisch – weil sie sich mit der jüdischen Kultur verbunden fühlen, weil ihre Herkunfts- oder Familiengeschichte sie jüdisch macht, die Mutter Jüdin ist oder weil sie tatsächlich auch religiös praktizieren.

 

Makkabi Deutschland-MDWG 2023
Junge jüdische Menschen bei den Winterspielen in Ruhpolding zu Beginn des Jahres 2023.

Gibt es im Judentum ein Bewusstsein für weibliche Perspektiven?

Du warst bis 2019 Vizepräsidentin der Europäischen Union jüdischer Studentinnen und Studenten, hast dann das erste „Jewish Women Empowerment Summit“ organisiert. Was ist das?

Laura Cazès: Das ist eine jährlich stattfindende Konferenz, auf der junge jüdische Personen aushandeln, inwieweit in jüdischen Communities Platz ist für feministische Positionen, inwieweit auch Platz ist für jüdische Positionen in queer-feministischen Räumen. Die allgemeine Frage lautet: Gibt es im Judentum ein Bewusstsein für weibliche Perspektiven?

Manche Begriffe gehen gar nicht

Du hast ein Buch herausgegeben unter dem Titel "Sicher sind wir nicht geblieben". Jüdische Autorinnen und Autoren beschreiben ihre Sicht auf das Leben in Deutschland. Entstanden sind sehr persönliche, vielschichtige Texte. Gleich zu Beginn beschreibst Du selbst eine Szene bei einem Italiener im Frankfurter Nordend. An einem Tisch mit vier Männern fällt der Ausdruck: bis zur Vergasung – und das gleich mehrmals.

Laura Cazès: Ja, das ist mir passiert. Ich habe mich immer wieder umgedreht und gefragt: „Wie oft denn noch?“ Außer mir tat das niemand in diesem Restaurant. Die anderen Gäste haben mich als Irritation wahrgenommen, nicht etwa die Männer.

Fischer-Verlag
Laura Cazés lebt gerne in Frankfurt am Main.

Kommt so etwas öfter vor?

Laura Cazès: Das ist geradezu beispielhaft. Aber ich will nicht bemitleidet werden. Mir geht es darum, den latenten bis offenen Antisemitismus zu beschreiben, der Jüdinnen und Juden überall begegnet, beim Italiener, im Bundeskanzleramt, bei der Arbeit, an der Uni. Er ist nicht einem bestimmten Milieu zuzuordnen. Es gibt in Deutschland keinen antisemitismusfreien Raum.

Wir schauen in diesem Land oft auf die jüdische Erinnerungskultur. Wie sieht das deutsche Erinnern aus?

Laura Cazès: Erstmal ist festzuhalten: Es gibt eine Erinnerungskultur. Und das ist gut so. Doch das Erinnern an die Shoah, an die Verbrechen der Nationalsozialisten, ist sehr ritualisiert. Im Kontext dieser Erinnerungskultur werden immer wieder bestimmte Phrasen wiederholt, zum Beispiel: Jüdinnen und Juden sind ein Geschenk für Deutschland.

 

Wahre Geschichten von Entwertung und Enttäuschung

Was stört dich daran?

Laura Cazès: Geschenke kosten Geld. Die Berliner Journalistin Erica Zingher beschreibt das sehr gut in ihrem Essay in dem Buch, das ich herausgegeben habe: „Realistische Geschichten über die jüdische Gegenwart in Deutschland müssten in Einzimmerwohnungen im Randbezirk stattfinden. Im 14. Stock einer Plattenbausiedlung. Während eines Besuchs bei der Tafel. Im jüdischen Altersheim. Diese Geschichten würden von Enttäuschung handeln und dem Gefühl, entwertet worden zu sein. Sie würden alte Menschen ins Zentrum rücken. Jüdinnen und Juden, die in Armut leben müssen.“ Auch das „Nie wieder“ korrespondiert oft nicht mit der Lebensrealität von Jüdinnen und Juden in diesem Land. Die Anschläge auf jüdische Einrichtungen zeigen das.

Was stellt Du Dir für eine Erinnerungskultur vor?

Laura Cazès: Sie sollte eine Auseinandersetzungskultur sein. Jede und jeder sollte sich fragen: Bin ich immun gegen faschistische Ideologien? Ist mein Weltbild geprägt durch antisemitische Narrative?

Sicher sind wir nicht geblieben

Laura Cazès hat jüdische Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Sicht auf das Leben in diesem Land, aber auch auf das „Jüdischsein“ zu beschreiben. Mitgemacht haben unter anderen Mirna Funk,  Kolumnistin und Autorin. Und Daniel Donskoy, Schauspieler und Musiker, Kopf der WDR-Sendung „Freitagnacht Jews“. Auch dabei ist Richard C. Schneider, langjähriger Leiter des ARD-Studios Tel Aviv.

Buchtipp
Laura Cazès: „Sicher sind wir nicht geblieben – Jüdischsein in Deutschland“, S. Fischer Verlag 2022, 226 Seiten, 24 Euro.

Antisemitische Narrative seit mehr als 2000 Jahren

Wie stelle ich das fest?

Laura Cazès: Ich bemerke erst mal, dass ich überhaupt keinen antisemitismuskritischen Blick gelernt habe. In der Schule etwas über die Shoah zu erfahren immunisiert nicht gegen ein latent antisemitisches Weltbild. Das ist ja auch klar.

Warum ist das klar?

Laura Cazès: Antisemitische Narrative prägen europäische Gesellschaften seit mehr als 2000 Jahren. Sich das mal bewusst zu machen, jenseits der eigenen Familienbiografie, bringt einen weiter und enttabuisiert auch etwas das Sprechen über den gegenwärtigen Antisemitismus.

Wie lässt sich ein antisemitismuskritischer Blick lernen?

Laura Cazès: Indem Menschen sich fragen, ob Antisemitismus bei der systematischen Vernichtung von Menschen beginnt? Oder schon beim Glauben an Verschwörungstheorien? Oder wenn einen das Gefühl beschleicht, ob es da doch so eine Elite gibt, die mehr Macht hat als andere?

Hast du schon mal Antisemitismus erlebt?

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