Am 20. Juni 2020, einem Samstag, gegen 19.30 Uhr verließ Emil (16) sein Elternhaus. Er wollte bei einem Freund übernachten. Er hatte sich nicht verabschiedet, war schon draußen, als sein Vater ihn noch sah und vom Küchenfenster aus “Tschüss” rief. „Er drehte sich um mit einem klaren Blick, einem Nicken, aber ohne Erwiderung. Er wusste ja, dass es kein Wiedersehen geben würde. „Nicht in dieser Welt. Wir wussten das noch nicht“, schreiben seine Eltern in einem Brief an ihren verstorbenen Sohn ein Jahr danach.
Zu dem Zeitpunkt hatten die Eltern und die Geschwister ein gutes Gefühl, endlich - nach schweren Monaten. Emil, der aus seinem Internat in Japan zurückkommen musste, weil er Suizidgedanken geäußert hatte, wollte nun doch nicht mehr zurück dorthin. Die Fachleute der Akutstation der Frankfurter Kinder- und Jugendpsychiatrie hatten Asperger bei ihm diagnostiziert, eine leichte Form des Autismus. Nach fünf Wochen in der Klinik wurde er als geheilt entlassen.
Dir geht es nicht gut, und du willst vertraulich mit jemandem über deine Situation sprechen? Dann kannst du dich an die Telefonseelsorge wenden.
0800 111 0 111 (evangelisch) oder
0800 111 0 222 (katholisch)
116 123 für Jugendliche
0800 111 0 550 für Eltern
Online bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention
Emil war scheinbar auf einem guten Weg, wollte einen Intelligenztest machen, um sich neben der Schule an der Universität für Mathematik und Physik einzuschreiben. Mit seiner Schwester ging er ins Kino. Nur waren es keine Signale der Entwarnung, sondern alles kleine Abschiede.
An jenem Samstag ist Emil nicht zu einem Freund gegangen, sondern in den Wald zur Frankfurter Oberschweinstiege. Dort schlug er sein Zelt auf. Den Ort hatte er vermutlich vor längerer Zeit ausgesucht, seine Sachen dort deponiert. Bis nach Mitternacht telefonierte er mit Freunden. Die Eltern vermuten, dass er dann, am frühen Sonntag, mittels einiger illegaler Substanzen seinem Leben ein Ende gesetzt hat.
Emils Familie fuhr an diesem Sonntag ganz früh nach Bremen, um einen Hund auszusuchen. Emil wusste also, dass er ausreichend Zeit haben würde, um seinen Plan endlich in die Tat umsetzen zu können.
Die Familie kehrte am Abend zurück, das Haus war leer. Emil war telefonisch nicht erreichbar, auch der Übernachtungsfreund war es nicht. Die Eltern meldeten ihren Sohn als vermisst. Die Polizei war noch auf dem Weg zu den Puhls, als die Mutter im Haus einen Abschiedsbrief fand. Emil schrieb, es tue ihm leid, dass die anderen leiden mussten.
Die Mutter Alix Puhl ist erstaunt, wie viele Menschen nach Emils Tod ihre Herzen geöffnet haben, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Viele von ihnen kannten die Puhls schon lange, wussten trotzdem nichts davon. Für einige der Freunde oder Bekannten seien sie die ersten gewesen, mit denen sie seit Jahren oder überhaupt über Suizid sprechen. All diese Berichte über die eigenen Erfahrungen mit Suizid in der Familie, Depression und anderen seelischen Erkrankungen hätten eines gemeinsam: Mit „Bitte behaltet das für Euch!“ habe es angefangen oder geendet. Der Bitte kommen sie natürlich nach.
„Die schiere Zahl der Geschichten hat uns allerdings erschreckt und sehr nachdenklich gemacht. Mehr als 50 Gespräche zu Depression, Suizid, Suizid-Versuchen waren es bisher“, zählt Puhl auf. Jede und jeder leide still und für sich. Nach außen müsse alles funktionieren, Hochglanz und strahlendes Lächeln seien gefragt.
Warum machen wir uns gegenseitig als Gesellschaft etwas vor?
fragt die Frankfurterin.
Alix und Oliver Puhl haben zwei Jahre nach Emils Tod, im März 2022, das gemeinnützige Unternehmen „Tomoni Mental Health“ gegründet. Zusammen mit ihrem Team schaffen sie dort Angebote zur Früherkennung von psychischen Krankheiten bei jungen Menschen.