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Kirchenasyl statt Abschiebung: Natsnets Kampf für ein Leben in Sicherheit

Selfie von Natsnet Yemane in einer Wohnung
privat

Alpträume von der Flucht begleiten Natsnet auch in ihrem Kirchenasyl. Auf ihrem Weg nach Deutschland musste sie viele Hindernisse überwinden.

von Claudia Müller

Für Natsnet Yemane wird ein Ausdruck zivilen Ungehorsams zur Rettung: das Kirchenasyl. Drei Jahre dauert die Flucht der eritreischen Christin nach Europa, nach Deutschland. Kraft schöpft Natsnet unterwegs aus ihrem Glauben und aus der Vorfreude auf ein Wiedersehen mit ihrem eritreischen Verlobten. Dank des Kirchenasyls ist das Wiedersehen mehr als eine Stippvisite und die Verlobten sind inzwischen ein Ehepaar.

Gründe für die Flucht aus Eritrea

2016: Zu Fuß und im Dunkeln macht sich Natsnet in einer kleinen Gruppe von Eritreer:innen auf den Weg ins Nachbarland Äthiopien. „Ich bin aus Eritrea geflüchtet, weil es dort immer Krieg gibt und keine Menschenrechte“, begründet die heute 31-Jährige ihre Flucht.

Wir mussten schmutziges Wasser trinken.

Natsnet über ihre Erfahrungen auf der Flucht durch die Wüste

Die junge Frau schafft es zurück aus der Wüste – und wird inhaftiert. Zwei Monate sitzt sie in einem sudanesischen Gefängnis. Natsnet zahlt Geld, damit sie freikommt und macht sich wieder auf den Weg in Richtung Mittelmeer.

Mit Schleppern nach Europa

Diesmal versucht sie es über Ägypten. In Kairo kommt Natsnet bei einheimischen Christ:innen unter, wartet dort neun Monate, bis die Schlepper sich melden: Aufbruch nach Libyen! Und schließlich der nächtliche Transfer auf ein Boot – 300 Menschen, 22 Stunden über der dunklen Tiefe, kaum jemand kann schwimmen.

Ein Rettungsschiff nimmt die Flüchtlinge schließlich an Bord, bringt sie nach Italien. „Gott sei Dank!“, sagt Natsnet. Nach zwei Wochen in Italien fährt sie weiter Richtung Deutschland, zu ihrem Verlobten.

EU-Vorschrift Dublin III: Zuständigkeit in Asylfragen

Frühling 2019: Als Natsnet in Baden-Württemberg Asyl beantragt, erfährt sie: Gemäß der Dublin-III-Verordnung ist Italien für ihr Asylverfahren zuständig. Das Land, in dem sie Europa zum ersten Mal betreten hat. Natsnet droht die Rückschiebung, obwohl sie inzwischen schwanger ist. Ein Freundeskreis Asyl und eine evangelische Kirchengemeinde helfen dem Paar, richten für Natsnet ein Kirchenasyl ein.

Kirchenasyl

Wenn Menschen von Abschiebung bedroht sind, bekommen sie manchmal Kirchenasyl. Währenddessen unterstützen die Gemeinden Geflüchtete dabei, einen legalen Aufenthaltsstatus zu beantragen. 

Innerhalb der vorgeschriebenen Frist von vier Wochen, nach Beginn des Kirchenasyls, übergeben Kirchengemeinde, Rechtsbeistand und Asylpfarrer dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Dossier, eine Begründung: Weshalb stellt es eine unzumutbare Härte dar für Natsnet, dass sie zurückgeschoben wird? Weshalb sind Leib und Leben der Eritreerin gefährdet durch eine Rückschiebung?

Das BAMF lehnt die Begründung ab. Theoretisch müsste das Kirchenasyl jetzt innerhalb von drei Tagen beendet werden. Praktisch hat sich an der Situation von Natsnet Yemane nichts geändert. Der Kirchenvorstand entscheidet: Wir setzen das Kirchenasyl fort – ohne das O.K. des Staates und mit der Hoffnung, dass sich mit den Behörden eine andere Lösung als die Rückschiebung finden lässt. Kirchenasyl ist ziviler Ungehorsam für Härtefälle.

Sechs Monate lang lebt Natsnet in den Räumen eines Gemeindehauses in Württemberg. „Es ist schwierig, wenn man nicht rausgehen darf, es ist wie ein Gefängnis. Aber ich hab's akzeptiert. Es geht ja um mich, ums Leben“, beschreibt Natsnet im Rückblick ihre Situation.

Natsnet über die Nachwirkungen ihrer Flucht auf ihren Schlaf

Jedes Wochenende verbringt ihr heutiger Ehemann mit Natsnet. Unter der Woche lernt sie Deutsch, strickt, treibt Sport und hat oft Besuch von Bekannten aus der Kirchengemeinde. Ein Arzt hilft ehrenamtlich, untersucht die Schwangere regelmäßig. Und die zuständigen Behörden dulden das Kirchenasyl.

Dass das auch anders hätte laufen können, zeigt die Statistik: Sieben Mal hat das BAMF 2023 von seiner Rechtshoheit Gebrauch gemacht, indem es Kirchenasyle hat räumen lassen. Auch 2024 haben Beamt:innen schon Räumungen vollzogen.

Gemäß der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl gab es im April 2024 in Deutschland 594 aktive Kirchenasyle mit rund 780 Personen. Meistens handelt es sich um sogenannte Dublin-Fälle, also Menschen wie Natsnet, die in das Land, in dem sie Europa betreten haben, zurück müssten.

Menschen auf der Flucht erfahren Grausamkeiten in der EU

Manche der Geflüchteten wehren sich gegen diese Rückschiebung unter anderem, weil sie an den EU-Außengrenzen Grausamkeiten erlebt haben. So berichten Asylsuchende von Grenzbeamt:innen, die ein Spalier bilden, durch das Geflüchtete unter Schlägen laufen müssen. Oder Beamt:innen, beispielsweise in der Balkanregion, transportieren die Aufgegriffenen in dunklen Lastern zurück über die Grenze – sogenannte Pushbacks. An manchen Grenzen werden Familien getrennt – Väter ins Gefängnis, alle anderen in ein Flüchtlingscamp – und auch sonst scheinen Grenzbeamt:innen Asylverfahren vor ihrer Haustür zu erschweren.

Der württembergische Asylpfarrer Joachim Schlecht hat solche Berichte mehrfach gehört und betont: „Es ist geltendes EU-Recht, dass jeder Flüchtling, der die EU erreicht, auch ein Anrecht auf Asylprüfung hat.“

Natsnet steht auf der Straße in kurzen Hosen und blickt in die Kamera
privat

2024: Inzwischen hat Deutschland Natsnet Yemanes Asylverfahren übernommen und ihrem Asylantrag zugestimmt – auch, weil Eritrea kein sicherer Drittstaat ist. So können Natsnet, ihr Mann und ihr Sohn bleiben.

Dank vielen Helfenden ist die Christin in Deutschland angekommen. Natsnet spricht Deutsch, arbeitet in einer Kita und möchte Erzieherin werden. Kirchenasyl mag umstritten sein, für Natsnet Yemane ist dieser Ausdruck zivilen Ungehorsams zur Rettung geworden.