Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat am 13. April vorgeschlagen, Anti-Corona-Maßnahmen nicht mehr nur vom Inzidenzwert abhängig zu machen, sondern von der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Das ist frei von medizinischer Fachkenntnis, ignorant und menschenverachtend. Ich habe lange als Rettungsassistent gearbeitet und kann dir erklären, warum:
Eine großflächige Lungenentzündung ist eine schwere, schlimme Krankheit. Bei einer beidseitigen interstitiellen Pneumonie, wie die Medizin dazu sagt und wie sie bei einer Infektion mit dem Virus Sars-CoV-2 auftreten kann, ist das Lungengewebe stark entzündet. Eitriges Sekret läuft in die Lungenbläschen. Während eine gesunde Lunge im Röntgenbild dunkel scheint, sieht ein derartig befallenes Atmungsorgan aus wie eine Milchglasscheibe.
Die Patientinnen und Patienten haben schwere Atemnot. Sie stützen sich mit den Armen auf, um ihre Atemhilfsmuskulatur zu unterstützen. Aber das nützt ihnen nur sehr beschränkt. Sie müssen husten, und das tut ihnen wegen des entzündeten Lungengewebes höllisch weh. Ihr Herz rast.
Das Atmen strengt sie so an, dass ihre Kräfte zunehmend schwinden. Ihre Atmung wird dann immer flacher, bis sie ganz aussetzt. Wer noch Glück hat, hat wegen der Entzündung so hohes Fieber, dass das Bewusstsein geschwunden ist. Denn sonst kriegt er oder sie den Prozess des Erstickens voll mit. Zumindest so lange, bis das medizinische Personal eine Narkose einleitet und einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre einführt.
Übersetzt heißt Kretschmers Vorschlag: Wir sollen nicht mehr schauen, dass so wenig Menschen wie möglich diese Symptome entwickeln. Sondern danach, wie viele davon die Intensivstationen versorgen können.
Mal abgesehen davon, dass das zynisch bis zum Gehtnichtmehr ist: Kretschmer hat offensichtlich nicht verstanden, dass „Versorgen“ nicht unbedingt „Retten“ heißt. Bei schwer geschädigtem Lungengewebe sterben die Erkrankten, ohne dass auch die beste Intensivmedizin etwas für sie tun könnte.
Und selbst wenn sie überleben, erholt sich ihre Lunge nie mehr vollständig. In ihr bleibt narbiges Bindegewebe zurück, das am Gasaustausch mit der Blutbahn nicht mehr teilnimmt. Patientinnen und Patienten sind dann, je nachdem, wie viele Narben ihre Lunge aufweist, auf Sauerstoff angewiesen. Selbst leichte Anstrengungen wie Treppensteigen verursachen ihnen schwere Atemnot. Für den Rest ihres Lebens.
Und was der sächsische Ministerpräsident obendrein zu ignorieren scheint: Corona hat eine Inkubationszeit von zehn bis 14 Tagen. Wer sich also heute infiziert, wird erst in zwei Wochen krank. Wenn ein Landrat heute entscheiden würde, dass die Grenze der Belastbarkeit des lokalen Gesundheitssystems erreicht wäre und einen harten Lockdown einleiten würde, dann stiegen die Fallzahlen noch zwei Wochen lang weiter.
Weil sich der Zustand von Erkrankten oft erst zwei Wochen nach Ausbruch von Covid dramatisch verschlechtert, stiegen die Aufnahmezahlen auf den Intensivstationen dann sogar noch vier Wochen lang.
Zudem ist Kretschmers Vorstoß eine bodenlose Unverschämtheit gegenüber dem medizinischen Personal. Schon während der zweiten Welle hat das am Anschlag geschuftet. Jetzt, meint der Ministerpräsident, könne es doch noch eine dritte Welle abwettern.
Ich kann nur hoffen, dass Kretschmer einsieht, wie frei von medizinischer Sachkenntnis, ignorant und menschenverachtend sein Vorschlag ist.
Kretschmers Vorstoß ist zynisch