Jüdisches Leben in Deutschland

Zu Gast in einer Synagoge

Ein Junge liest in der Thora. Für diese Aufgabe werden Kinder extra ausgebildet.
Getty Images/edelmar
Ein Jung liest in der Thora.

In Deutschland lebt die drittgrößte jüdische Gemeinschaft Europas. Doch wie leben jüdische Menschen ihren Glauben? Unsere Reporterin hat in Stuttgart eine Synagoge besucht.

An der S-Bahn-Station Stadtmitte Stuttgart aussteigen. Nicht weit vom Hospitalhof taucht die Synagoge auf. Von außen ist der Bau unauffällig, die Sicherheitsvorkehrungen sind aus guten Gründen hoch. Vor dem Gebäude steht eine Menschentraube, alle samt Studentinnen fürs Grundschullehramt und die Sekundarstufe eins in Religionspädagogik für islamische Theologie in Ludwigsburg.

So sieht es in der Synagoge aus

David Holinstat spricht in der Synagoge
Clarissa Weber
David Holinstat spricht in der Synagoge

Kurz darauf geht es auch schon hinein ins Gemeindezentrum. Fix durch die Sicherheitsschleuse und dann in einen Vorraum. Dort gibt David Holinstat uns die ersten Infos. Er erzählt,  von der Zerstörung der Synagoge während der Reichspogromnacht 1938 und dem Wiederaufbau. 1952 wurde die neue Synagoge eröffnet.

Dann nimmt uns David mit in die Synagoge. Wir setzen uns auf alte Holzklappbänke und David weist darauf hin, dass wir Fotos machen dürfen, aber bitte nicht von außen und von den Fluchtwegen. Die Sorge vor Angriffen ist groß. Auch Fragen dürfen wir ihm jederzeit stellen.

Der Raum ist würfelförmig, in der Mitte gibt es ein Podest, vorne etwas, das einem Altar ähnelt, links und rechts davon stehen zwei siebenarmige Menora-Leuchter.

Synagoge soll ein Ort des Respekts sein

Auf den anderen drei Seiten des Raums verläuft eine Empore, auf deren Brüstung verschiedene Tiere und Symbole abgebildet sind. Später erklärt David uns: Sie stehen für die zwölf Stämme Israels. Das Licht in der Synagoge ist wunderschön, warm und vieles ist indirekt beleuchtet.

David beginnt zu erzählen und sagt, dass die Synagoge ein Ort ist, an dem man sich mit Respekt begegne. Dann erklärt der Mann mit den grauen Locken und dem grauen Bart, was wir in der Synagoge sehen. Beispielsweise das ewige Licht, Ner Tamid genannt, unter dem großen bunten Fenster mit dem Stern und über dem Thora-Schrein.

Judentum hat mehrere Strömungen

Er erläutert uns, dass es drei Strömungen im Judentum gibt: orthodox, konservativ und liberal. David selbst bezeichnet sich als liberal. Woran man erkennt, dass dies eine orthodoxe Synagoge ist? An der Empore. Denn darauf sitzen während des Gottesdienstes die Besucherinnen, die Männer sitzen unten.

Diese Strömungen sind im Judentum sehr breit definiert und lassen sich nur schwer mit den christlichen Konfessionen vergleichen.

Ner Tamid

Ner Tamid, das ewige Licht, ist in jeder Synagoge vorhanden und soll symbolisch an den Tempel in Jerusalem erinnern (vor seiner Zerstörung). Zudem wird es mit biblischen Geboten begründet (Exodus 27,20 und Levitikus 24,2).

Orthodoxe Juden halten sich sehr streng an die religiösen Gebote.

  • Konservative Juden hingegen entstanden aus dem liberalen Judentum. Sie achten mehr auf die Gebote als liberale Juden, passen sich aber der aktuellen Zeit an.
  • Liberale Juden haben eine sehr moderne Auffassung des Glaubens.

Ein Beispiel, das dies gut verdeutlicht: Orthodoxe Juden fahren nicht mit dem Auto zur Synagoge, da am Schabbat nichts entzündet werden darf. Für Konservative Juden ist an diesem Tag nur die Fahrt zur Synagoge erlaubt und liberale Juden haben mit dem Autofahren am Schabbat wenig Probleme, da das Fahreb Teil des modernen Lebens ist.

Gebetsbücher auf Deutsch, Hebräisch und Russisch

Gebetsbücher in verschiedenen Sprachen liegen überall in der Synagoge aus
Clarissa Weber
Gebetsbücher in verschiedenen Sprachen liegen überall in der Synagoge aus

Während des Gottesdienstes wird die Thora durch die Synagoge getragen. Anschließend wird sie in der Mitte auf einem Podest platziert und es wird daraus vorgelesen. Weitere Gebetsbücher liegen an vielen Stellen des Raumes. David erklärt, dass einige Gebetsbücher auf Deutsch und Hebräisch verfasst sind, aber die meisten auf Deutsch und Russisch, denn für rund 80 Prozent der Mitglieder der Gemeinde ist Russisch die Muttersprache.

Projekt „Meet-a-Jew“

David übernimmt nicht nur Synagogenführungen, sondern macht auch bei dem Projekt „Meet-a-Jew“ mit. Es wurde vom Zentralrat der Juden gegründet; Jugendliche können darüber mit Juden ins Gespräch kommen.

Spannend wird es, als die erste Studentin David eine persönliche Frage stellt. David, der als Informatiker arbeitet und die Führungen in seiner Freizeit anbietet, antwortet offen, erzählt von sich und seinem Leben. Er selbst stammt gebürtig aus den USA, aus Kalifornien.

Genauer gesagt aus Covina, einem Vorort von Los Angeles. Dort ist er als Einzelkind eines jüdischen Kommunalbeamten und seiner ebenfalls jüdischen Frau aufgewachsen. Der Glaube habe für ihn lange keine große Rolle gespielt. Seine Eltern hätten sich als "säkulare Juden" bezeichnet. Sie seien "bewusst nicht religiös" gewesen.

David: Erst in Europa mit dem Judentum befasst

Erst mit seinem Umzug nach Europa habe er sich mehr mit dem Judentum befasst, erzählt David. Und schließlich seine Bar-Mizwa , also die religiöse Mündigkeit, mit 55 Jahren nachgeholt. In Deutschland fühle er sich als Jude sicherer als in den USA, sagt David.

Inzwischen ist an diesem Nachmittag das Eis gebrochen und die Studentinnen stellen immer mehr Fragen. Manche haben etwas über Juden und den jüdischen Glauben gehört und wollen wissen, ob das stimmt. Beispielsweise, ob eine Thora-Rolle wirklich wie ein Mensch beerdigt wird. Die Antwort ist ja. Wenn die Thora-Rolle ausgedient hat, wird sie wie ein Mensch in der Erde beerdigt.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum

Eine Studentin fragt David, ob er denn als Jude überhaupt eine Kirche betreten darf, denn Moslems und Juden dürften sich ja kein Bild von Gott machen und mit Jesus am Kreuz gäbe es doch ein Bild von Gott. David erklärt, dass es darauf ankommt, wen man fragt. Gerade orthodoxe Juden würden aus diesem Grund tatsächlich keine Kirche betreten, aber eine Moschee wäre kein Problem.

David selbst hingegen ist mit einer evangelischen Frau verheiratet, singt in einem christlichen Kirchenchor mit und betet auch das „Vater unser“. Ihm machen die Musik und das Singen in der Gemeinschaft Spaß, aber er singe nicht alle Lieder des Chors und habe so seine Schwierigkeiten mit der Dreieinigkeit Gottes. Andere Fragen drehen sich um den Schabbat, koscheres Essen, das Tragen der Kippa. Dürfen jüdische Ärzte beispielsweise samstags nicht arbeiten? Doch dürfen sie, denn das Leben geht immer vor, sagt David.

Wie stehen die Religionen zu Jesus?

Immer wieder widmen sich Fragen um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Islam, dem Judentum und dem Christentum. Wie stehen die drei Religionen zu Jesus? Wie ist es mit Hochzeiten zwischen den Religionen und Scheidungen vor Gott? Wie ist es, wenn man konvertieren möchte? Die Studentinnen fragen und David erzählt und erzählt, auch wenn er nicht auf jede Frage eine Antwort hat. Außerdem, witzelt er, gelte immer wieder der Satz: „Frag zwei Juden und du hast drei Meinungen.“

Die Dozentin der Studentinnen ergänzt an manchen Stellen. So erfahren wir, dass es nebenan noch eine weitere, kleine Synagoge gibt, für die eher liberalen Juden, wo Frauen und Männer auf gleicher Ebene in der Synagoge sitzen können. Nach dem Gottesdienst treffen sich beide Gruppen oft und essen gemeinsam. Sie versuchen sogar die Länge der Gottesdienste so anzupassen, dass ein gemeinsamer Beginn des Essens möglich ist. David schmunzelt und meint:

Die letzten Male war der orthodoxe Gottesdienst sogar früher fertig.

Jüdisches Leben in Württemberg

Mazel Tov Schriftzug in der Stuttgarter Synagoge. Mazel Tov wird zu einer Feier gewünscht
Clarissa Weber
Mazel Tov Schriftzug in der Stuttgarter Synagoge. Mazel Tov wird zu einer Feier gewünscht

Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) ist die siebtgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands. Sie hat etwa 3000 Gemeindemitglieder. Ihr Zentrum ist in Stuttgart, Zweigstellen gibt es unter anderem in Ulm, Heilbronn und Esslingen. Sie möchte als Einheitsgemeinde allen jüdischen Menschen in Württemberg eine Heimat bieten.

Führungen durch Synagogen

Stuttgart: Einzelbesucher können sich zu bestimmten Terminen anmelden. Wer eine Führung buchen möchte, muss eine  Anfrage stellen unter E-Mail niermann(at)irgw.de. Informationen gibt es auf der Homepage.

Frankfurt:  Gruppen müssen sich per E-Mail mit der jüdischen Gemeinde in Verbindung zu setzen: synagogenfuehrungen(at)jg-ffm.de. Einzelpersonen können über die Jüdische Volkshochschule eine Führung buchen. Informationen auf der Homepage.

Stuttgart ist Sitz eines Ortsrabbinats, der Rabbiner heißt Yehuda Pushkin. In Stuttgart betreibt die IRGW unter anderem eine Religionsschule, die jüdischen Religionsunterricht von der 1. Klasse bis zum Abitur anbietet.

Außerdem gibt es in der Landeshauptstadt eine staatlich anerkannte jüdische Grundschule der IRGW, einen Kindergarten und ein Jugendzentrum.

Jüdisches Leben auch in Frankfurt

Auch in Frankfurt gibt es eine große jüdische Gemeinde. Die Jüdische Gemeinde Frankfurt zählt zu den vier größten Jüdischen Gemeinden Deutschlands. Sie hat knapp 6.500 Mitglieder. In Frankfurt unterhält die jüdische Gemeinde ein Gemeindezentrum samt koscherem Restaurant., zwei Kindergärten, Krippen, eine Kindertagesstätte, eine Schule, eine eigene Sozialabteilung sowie ein Jugend- und ein Altenzentrum mit Tagespflege und einer Altenwohnanlage. Die größte Synagoge Frankfurts ist die Westend-Synagoge an der Freiherr-vom-Stein-Straße. Auch durch die Westend-Synagoge werden Führungen für Schulklasse und Einzelpersonen angeboten.