Psychosoziale Notfallversorgung

Strukturelle Nachteile in der Notfallseelsorge

Nils Sandrisser
Kommentar von Nils Sandrisser

Wie gut ist Notfallseelsorge in der Krisenintervention wirklich? Ein Kommentar über strukturelle Probleme.

Über Notfallseelsorge und Krisenintervention berichten die Medien in den allermeisten Fällen nur Gutes. Zeitungen und Radiosendungen sind voll des Lobes über das unverzichtbare Engagement von Pfarrerinnen, Pfarrern und Ehrenamtlichen und dessen segensreiche Wirkung. Zum 25. Jahrestag des Zugunglücks von Eschede dürften wieder etliche dieser Jubelmeldungen erscheinen.

Ehrenamtliche Arbeit hilft auch im Notfall

Das Zugunglück von Eschede

Am 3. Juni 1998 entgleiste ein ICE auf seiner Fahrt von München nach Hamburg bei Tempo 200 am südlichen Ortsrand von Eschede (Kreis Celle) in Niedersachsen. Der Zug prallte gegen eine Straßenbrücke. Die rund 200 Tonnen schwere Betonbrücke stürzte ein. Bei dem schwersten Zugunglück in der bundesdeutschen Geschichte starben 101 Menschen, mehr als 100 wurden verletzt. Rund 2.000 Helfer:innen verschiedener Rettungsorganisationen bargen Verletzte und Tote. epd

Es ist unheimlich schwer, als Journalist eine ehrenamtliche Struktur zu kritisieren. Ein Ehrenamt ist ja prinzipiell lobenswert. Punkt.

Daher gilt: Ziel der Kritik, wenn sie nötig ist, müssen Strukturen sein, niemals Menschen. Trotzdem ist damit zu rechnen, dass es Ehrenamtliche gibt, die sich mit ihrem Ehrenamt so sehr identifizieren, dass sie nicht zwischen Kritik an Strukturen und Kritik an ihrer Person unterscheiden können.

Vier Kritikpunkte am System Notfallseelsorge

Vier strukturelle Schwächen am System von Notfallseelsorge und Krisenintervention lassen sich ausmachen:

1. Bei Großschadenseinsätzen kombinieren wir in Deutschland zwei Strukturen, die nur sehr begrenzt kompatibel sind. Wenn in der ersten Phase eines Großeinsatzes Patienten und Patientinnen triagiert werden, geschieht das nur grob. Aus Zeitgründen geht das auch gar nicht anders. Das bedeutet aber, dass auch danach stets jemand, der ein bisschen medizinisch Ahnung hat, ein Auge auf jene Betroffenen haben muss, die nicht medizinisch versorgt, sondern psychosozial betreut werden. In den USA, von wo dieses Triagesystem stammt, und in anderen Ländern geschieht das auch. Ein Pfarrer der Notfallseelsorge oder eine Ehrenamtliche der Krisenintervention hat die dafür nötige medizinische Kompetenz in aller Regel aber nicht.

2. Hinzu kommt ein gewisses Defizit bei der Auswahl geeigneter Personen, seien es Pfarrerinnen und Pfarrer oder Ehrenamtliche. Das ist natürlich immer ein Problem von Strukturen, die auf Freiwilligkeit beruhen. Einerseits ist man froh um jeden Menschen, der mitmachen will, und braucht dessen Hilfe auch dringend. Gerade bei anspruchsvollen Tätigkeiten muss man aber manchen Bewerberinnen und Bewerbern unangenehme Wahrheiten sagen.

3. Zudem ist die Ausbildung nicht ausreichend geregelt.

4. Und chronisch unterfinanziert ist das gesamte System der psychosozialen Notfallversorgung auch.

Versagt der Journalismus in Krisen?

Von all dem ist aus den Medien so gut wie nie etwas zu erfahren. Das ist natürlich nicht die Verantwortung der Öffentlichkeitsarbeit von Kirchen und Hilfsorganisationen, wo die jubelnden Berichte über Notfallseelsorge und Krisenintervention in aller Regel entstehen. Die macht einfach nur ihren Job. Es ist das Versagen eines Journalismus, der solche Berichte oft unkritisch übernimmt. Und so entsteht kein Verbesserungsdruck auf defizitäre Strukturen

Bitte über Notfallseelsorge neu nachdenken

Das Zugunglück von Eschede vor 25 Jahren war zweifellos ein Meilenstein in der Entwicklung der psychosozialen Notfallversorgung, besonders die der Einsatzkräfte. Aber wenn wir in diesen Tagen der Toten, körperlich Verletzten und psychisch Traumatisierten der Katastrophe gedenken, sollten wir vielleicht auch mal darüber nachdenken, ob unser System von Notfallseelsorge und Krisenintervention, so wie es derzeit besteht, wirklich der Weisheit letzter Schluss ist.

Was denkst du dazu?

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