Eine Minute vor 11 Uhr, am 3. Juni 1998, entgleist Waggon 2 des ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ nahe des niedersächsischen Städtchens Eschede. Nachfolgende Waggons des ICE springen ebenfalls aus den Gleisen und prallen gegen eine Brücke, die auf den Zug stürzt.
Anwohner und Einsatzkräfte, die Minuten später am Unglücksort eintreffen, haben ein grauenvolles Bild vor sich. In den ineinander verkeilten Waggons stecken Tote und Verletzte. 101 Menschen sterben bei diesem bis heute schwersten Zugunglück in Deutschland. Mehr als 70 werden schwer verletzt.
Eschede war die erste Katastrophe in Deutschland, bei der eine umfassende psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) für Betroffene wie für Einsatzkräfte zum Einsatz kam. Damals wie heute leisteten und leisten diese Arbeit überwiegend Nicht-Psychologen, meist Pfarrpersonnen und Ehrenamtliche.
Die Medien sind voll von Geschichten, wie segensreich die PSNV wirkt, sei es in Form der Notfallseelsorge oder der Krisenintervention.
Die Forschung ist da aber kritischer als die Medien. Sie weist darauf hin, dass gerade bei Katastrophen und anderen großen Schadensereignissen wie zum Beispiel Eschede den Ehrenamtlichen, die ja in der Regel keinen psychologischen oder medizinischen Hintergrund haben, wichtige Kompetenzen fehlen.
Fairerweise muss man aber sagen, dass bislang wohl kein Fall vorkam, in dem ein Patient oder eine Patientin zu Schaden gekommen wäre, weil ein ehrenamtlicher PSNV-Helfer ein medizinisches Problem übersehen hätte.
Denn nicht nur bei den medizinischen Kompetenzen gibt es Lücken, sondern auch bei den psychosozialen, also der eigentlichen Aufgabe der PSNV. „Es ist schon eine spezielle Fachlichkeit erforderlich, um zu erkennen, ob jemand Traumafolgeschäden hat“, erklärt Helmerichs. Diese Fachlichkeit hätten aber nicht alle. Was deren Können angehe, gebe es „eine große Heterogenität“.
Das Problem sei nicht, dass schlecht qualifizierte Ehrenamtliche Betroffene retraumatisieren könnten, stellt Helmerichs klar. Das komme nur äußerst selten vor. „Meist bewirken sie einfach gar nichts“, sagt die Soziologin. Das sei insofern problematisch, als dass sich Betroffene später keine Hilfe holen, wenn sie sie bräuchten, nachdem sie beim ersten Mal keine positiven Erfahrungen gemacht hätten.
Meist beginne das Problem schon bei der Ausbildung, sagt Helmerichs. Einerseits wolle man ja Freiwillige gewinnen. „Das ist ja auch erst mal gut und richtig“, betont sie. Aber das führe mitunter dazu, dass man unter Bewerberinnen und Bewerbern für die Ausbildung in der PSNV nicht gut genug auswähle. „Wer ungeeignet ist, wird nicht in jedem Fall abgewiesen“, beschreibt Helmerichs.
Andreas Müller-Cyran, Diakon und Leiter der Abteilung Krisenpastoral im Erzbischöflichen Ordinariat München ist Notfallseelsorger und war damals auch bei Eschede im Einsatz. Er benennt ein weiteres Problem: „Die Qualität der Ausbildung ist unterschiedlich.“ Mitunter werde nach Algorithmen geschult. Die Ehrenamtlichen betreuten dann nach Schema F, weil sie es so gelernt hätten, sagt er. Das werde Betroffenen und ihrer Situation aber nicht gerecht.