Psychosziale Notfallversorgung

Notfallseelsorge wirkt segensreich – oder?

Einsatz für die Notfallseelsorge
fundus-medien.de/Peter Bongard

Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger leisten einen segensreichen Dienst an ihren Mitmenschen. Stimmt das wirklich immer?

Eine Minute vor 11 Uhr, am 3. Juni 1998, entgleist Waggon 2 des ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ nahe des niedersächsischen Städtchens Eschede. Nachfolgende Waggons des ICE springen ebenfalls aus den Gleisen und prallen gegen eine Brücke, die auf den Zug stürzt.

Eschede: Das bis heute schwerste Zugunglück in Deutschland

Anwohner und Einsatzkräfte, die Minuten später am Unglücksort eintreffen, haben ein grauenvolles Bild vor sich. In den ineinander verkeilten Waggons stecken Tote und Verletzte. 101 Menschen sterben bei diesem bis heute schwersten Zugunglück in Deutschland. Mehr als 70 werden schwer verletzt.

Bei dem schwersten Zugunglück der letzten Jahrzehnte in Deutschland waren am 3. Juni nach der Entgleisung eines ICE-Zuges im niedersächsischen Eschede bei Celle fast 100 Menschen getötet worden. Der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" prallte gegen eine Straßenbrücke kurz vor dem Escheder Bahnhof. Die Brücke stürzte auf den Zug. Die Bergungsarbeiten waren auch am nächsten Tag noch nicht abgeschlossen. Foto: Der hannoversche evangelische Landesbischof Horst Hirschler (hinten li.) besuchte am Tag nach dem Unglück den Unfallort.
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Ein Tag nach dem Zugunglück in Eschede: Der hannoversche evangelische Landesbischof Horst Hirschler (hinten li.) besuchte den Unfallort.

Eschede war die erste Katastrophe in Deutschland, bei der eine umfassende psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) für Betroffene wie für Einsatzkräfte zum Einsatz kam. Damals wie heute leisteten und leisten diese Arbeit überwiegend Nicht-Psychologen, meist Pfarrpersonnen und Ehrenamtliche.

Die Medien sind voll von Geschichten, wie segensreich die PSNV wirkt, sei es in Form der Notfallseelsorge oder der Krisenintervention.

Forschung ist kritisch mit Notfalseelsorge und Co.

Die Forschung ist da aber kritischer als die Medien. Sie weist darauf hin, dass gerade bei Katastrophen und anderen großen Schadensereignissen wie zum Beispiel Eschede den Ehrenamtlichen, die ja in der Regel keinen psychologischen oder medizinischen Hintergrund haben, wichtige Kompetenzen fehlen.

Psychosoziale Notfallversorgung in Deutschland

Anbieter von psychosozialer Notfallversorgung (PSNV) sind in Deutschland in der Regel die Kirchen oder Hilfsorganisationen. Die kirchlichen Angebote heißen Notfallseelsorge, die säkulären Kriseninterventionsteams.

PSNV kann helfen, die mentalen Folgen von Katastrophen abzumildern. Große Unglücke wirken nicht nur mittelbar, sondern erzeugen auch im Nachgang menschliches Leid und volkswirtschaftlichen Schaden. Zum Beispiel: Die Terroranschläge vom 11. September 2001. Rund 20 Prozent der Zeugen litten anschließend an einer posttraumatische Belastungsstörung. Bei einem Drittel der Betroffenen wurde daraus eine Depression.

Nun musst du zunächst wissen, wie die Arbeit in so einem Szenario funktioniert. Wenn auf einen Schlag viele Patientinnen und Patienten zu versorgen sind, teilen Rettungskräfte sie in zwei Gruppen ein:

  • Verletzte und
  • Betroffene.

Erstere werden medizinisch versorgt, letztere psychologisch betreut.

Im Katastrophenfall schnell reagieren können

Allerdings gibt es auch Verletzungen, deren Symptome erst im Lauf der Zeit erkennbar werden. Manche Schädel-Hirn-Traumata zum Beispiel.

Für alle Betreuten muss also jederzeit ein Wechsel zwischen den Gruppen möglich sein. Wenn etwa eine betreute Person auf einmal anfängt, wirr zu erzählen, kann das Ausdruck einer Dissoziation sein. Sie flieht aus der Realität, weil ihre Erlebnisse so schlimm waren. Es kann aber auch das Symptom eines Schädel-Hirn-Traumas sein. Dieses System stammt aus den USA.

Erste Hilfe bei einem Unfall
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Betreuungspersonal muss daher die Ursachen solcher Symptome unterscheiden können. Die USA und auch andere Länder wie etwa Australien oder Japan setzen bei der Betreuung daher auf sogenannte „mental health disaster nurses“, also hauptamtliche Pflegekräfte.

Spezialisierte Fachkräfte in der Erstversorgung im Einsatz

Die darfst du dir natürlich nicht so vorstellen wie Schwester Hildegard aus der Schwarzwaldklinik. „Disaster nurses“ sind hochspezialisierte Fachkräfte. Sie haben neben einer intensivmedizinischen auch eine psychologische oder psychiatrische Ausbildung. Sie unterstützen nicht nur auf der psychosozialen Ebene, sondern leisten oder koordinieren auch pflegerische Maßnahmen, lösen organisatorische Probleme und haben auch das medizinische Bild von Patienten im Blick.

Kommen Menschen durch Notfallseelsorge zu Schaden?

Fairerweise muss man aber sagen, dass bislang wohl kein Fall vorkam, in dem ein Patient oder eine Patientin zu Schaden gekommen wäre, weil ein ehrenamtlicher PSNV-Helfer ein medizinisches Problem übersehen hätte.

Notfallseelsorge Logo
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Jutta Helmerichs jedenfalls sagt, sie habe so einen Fall in ihrer beruflichen Praxis noch nicht erlebt. Und sie hat da wirklich einen guten Überblick, denn bis 2021 war sie Leiterin des psychosozialen Krisenmanagements im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Beim Zugunglück in Eschede leitete sie die Einsatznachsorge.

Andererseits wolle sie die Kritik der Forschung nicht einfach abtun, schränkt sie ein: „Wir sollten uns schon damit befassen.“

Helmerichs ist weit davon entfernt, ein rosarotes Bild von PSNV zu zeichnen. Ein paar Nachteile, sagt sie, habe das deutsche System mit seiner prominenten Rolle des Ehrenamts ja schon.

Lagebesprechung nach der Flutkatastrophe im Ahrtal
fundus-medien.de/Johannes Hoffmann
Lagebesprechung nach der Flutkatastrophe im Ahrtal

Große Unterschiede bei fachlichen Fähigkeiten

Denn nicht nur bei den medizinischen Kompetenzen gibt es Lücken, sondern auch bei den psychosozialen, also der eigentlichen Aufgabe der PSNV. „Es ist schon eine spezielle Fachlichkeit erforderlich, um zu erkennen, ob jemand Traumafolgeschäden hat“, erklärt Helmerichs. Diese Fachlichkeit hätten aber nicht alle. Was deren Können angehe, gebe es „eine große Heterogenität“.

Psychologische Erstversorgung ernst nehmen

Das Problem sei nicht, dass schlecht qualifizierte Ehrenamtliche Betroffene retraumatisieren könnten, stellt Helmerichs klar. Das komme nur äußerst selten vor. „Meist bewirken sie einfach gar nichts“, sagt die Soziologin. Das sei insofern problematisch, als dass sich Betroffene später keine Hilfe holen, wenn sie sie bräuchten, nachdem sie beim ersten Mal keine positiven Erfahrungen gemacht hätten.

Manchmal sind auch ungeeignete Personen dabei

Meist beginne das Problem schon bei der Ausbildung, sagt Helmerichs. Einerseits wolle man ja Freiwillige gewinnen. „Das ist ja auch erst mal gut und richtig“, betont sie. Aber das führe mitunter dazu, dass man unter Bewerberinnen und Bewerbern für die Ausbildung in der PSNV nicht gut genug auswähle. „Wer ungeeignet ist, wird nicht in jedem Fall abgewiesen“, beschreibt Helmerichs.

Qualität in Notfallseelsorge nicht konstant

Andreas Müller-Cyran, Diakon und Leiter der Abteilung Krisenpastoral im Erzbischöflichen Ordinariat München ist Notfallseelsorger und war damals auch bei Eschede im Einsatz. Er benennt ein weiteres Problem: „Die Qualität der Ausbildung ist unterschiedlich.“ Mitunter werde nach Algorithmen geschult. Die Ehrenamtlichen betreuten dann nach Schema F, weil sie es so gelernt hätten, sagt er. Das werde Betroffenen und ihrer Situation aber nicht gerecht.

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„Es ist auch nicht definiert, wer überhaupt ausbilden darf“, sagt er. Außerdem fehle es an einer geregelten Refinanzierung für die PSNV. Sie dürfe daher nicht viel kosten. „Das führt dann mitunter dazu, dass man an der Ausbildung spart und an der teuren Supervision“, beschreibt er.

Positive Seiten des Ehrenamts in der Notfallseelsorge

Doch ein auf Ehrenamt beruhendes PSNV-System habe durchaus auch Vorteile, weist die Soziologin Helmerichs hin. „Disaster nurses“ kommen meist nur bei den – seltenenGroßschadenslagen zum Einsatz. Dann kennen sie sich in der Regel in den Strukturen von  Rettungsdienst, Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz nicht aus und müssen sich in diese erst hineinfuchsen – während der Einsatz läuft.

Notfallseelsorge zusammen mit der Polizei
Fundus/Dirk Ostermeier

Ehrenamtliche Notfallseelsoge- und Kriseninterventionsteams hingegen arbeiten auch im Einsatzalltag mit den Rettungsdiensten und der Polizei zusammen. Etwa wenn sie Todesnachrichten überbringen oder Menschen nach plötzlichen Todesfällen von engen Angehörigen betreuen.

Ihre Mitglieder seien also in der Praxis trainiert, erklärt Helmerichs. Sie kennen Strukturen, Handlungsabläufe und – nicht ganz unwichtig – die jeweils verantwortlichen Personen in den Organisationen und Behörden mit Sicherheitsaufgaben.

Nicht-Fachkräfte bieten niedrigschwelligen Einstieg

In der psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) offenbart sich ein weiterer Vorteil dieses Systems. Es baut nicht nur auf den Einsatz hochspezialisierter Fachkräfte, sondern auf ein Netz von Nicht-Psychologen mit Zusatzausbildung: Es ist niedrigschwellig. Denn noch immer ist die Erkenntnis, professionelle Hilfe zu benötigen, unter Einsatzkräften mitunter schambehaftet. Einem Kollegen oder einer Kollegin öffnet man sich oft leichter.

PSNV für Einsatzkräfte

Die PSNV gliedert sich in zwei Bereiche: die Versorgung für Betroffene eines Unglücks (PSNV-B) und die Versorgung von Einsatzkräften nach belastenden Erlebnissen während ihrer Arbeit (PSNV-E). In der PSNV-E wird viel mit Peers gearbeitet. Das sind Einsatzkräfte, die eine Zusatzausbildung durchlaufen. So können sie Kolleginnen und Kollegen helfen, die Erlebnissen verarbeiten müssen. Diese Hilfe ersetzt aber keine professionelle psychologische Betreuung, sondern bietet nur einen Einstieg in sie.

Eine Kombination zwischen Fachkräften und Kolleginnen und Kollegen mit einer Zusatzausbildung sei „das Erfolgsrezept dieses Systems“, erklärt Helmerichs: „Weil da Leute dabei sind, die Stallgeruch haben.“ Beim Zugunglück in Eschede habe man dieses System in Deutschland erstmals angewendet.

Zwar gebe es für die Ausbildung der Peers (siehe blaue Infobox) noch keine staatlich anerkannten Zertifikate, sie sei nicht standardisiert, sagt Helmerichs. Aber: „Diese Leute sind alle sehr gut ausgebildet.“ Doch auch in der PSNV-E gebe es immer noch Raum für Verbesserungen, sagt sie: „Es gibt noch keine einheitliche und verbindliche Alarmierungsstruktur für Großschadenslagen .“ Die PSNV-E komme immer nur ad hoc zum Einsatz. Zwei Dinge brauche es, sagt die Soziologin:

  • kontinuierliche Ansprechpartner und
  • eine automatische Alarmierung ab einer gewissen Schwelle, was die Schwere eines Einsatzes betreffe. Kriterien für diese Schwelle habe das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bereits ausgearbeitet.

Kaum Fortschritte in der Krisenbewältigung seit Eschede

Zum Weiterlesen

Tener Goodwin Veenema (Hg.): „Disaster Nursing and Emergency Preparedness. For Chemical, Biological, and Radiological Terrorism, and Other Hazards“, Springer Publishing Company, New York 2019, 721 Seiten, 179,76 Euro.

Jamie Ranse et al.: „Leadership Opportunities for Mental Health Nurses in the Field of Disaster Preparation, Response, and Recovery, in: Issues in Mental Health Nursing 6/2015, S. 391-394, kostenpflichtig abrufbar.

Checklisten des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe für den PSNV-Einsatz

Seit Eschede gebe es leider kaum Fortschritte in der PSNV, bedauert der Münchener Diakon Müller-Cyran. Es brauche mehr Forschung, es brauche gesetzliche Rahmen. Letztlich, sagt er, sei das Problem, dass man sich mit diesem Thema nicht gerne beschäftige. Immerhin gehe es ja um plötzlich hereinbrechende Unglücke, Tod und existenzielle Not. „Das Thema braucht aber gesellschaftliche Akzeptanz“, sagt er.

Die Soziologin Helmerichs würde das Ehrenamt in der PSNV ihren Worten zufolge nicht abschaffen. „Es braucht aber mehr Hauptamtliche“, sagt sie. Es sei sinnvoll, Zertifikate einzuführen und eine Qualitätskontrolle bei den Ehrenamtlichen: „Die Freiwilligkeit sollte sich langsam in eine verbindliche Struktur verwandeln.“ Auch Müller-Cyran würde das Ehrenamt keinesfalls abschaffen wollen. „Ehrenamt braucht aber einen guten Rahmen“, erklärt er.