Einsamkeit

„Warum lässt du mich im Stich?“

Nicole Becker-Langner
Sebastian Theuner

Vor einem Jahr beschließt ihr Partner, nicht mehr weiterleben zu wollen. Mitten im Corona-Lockdown spürt Nicole plötzlich nur noch Trauer und Einsamkeit. Wie schafft sie es, nicht daran zu zerbrechen?

Als Ende Juni 2020 weite Teile Deutschlands von heftigem Regen getroffen werden, steht auch der Keller von Nicole Becker-Langner unter Wasser. Es ist nicht das erste Mal, aber diesmal ist es anders, schlimmer. Nicht der Schäden wegen. Doch als Becker-Langner Klamotten und Bücherkisten ins Trockene trägt, brüllt sie vor Wut: „Warum lässt du mich mit allem im Stich?“

Phase der Depression und Trauer

Anfang Juli diesen Jahres sitzt Nicole Becker-Langner auf dem beigefarbenen Sofa in ihrem Wohnzimmer. Sie trägt ein Oberteil mit Muster und Glitzersteinen, die Haare fallen ihr über die Schultern. Das Holzregal hinter ihr ist von unten bis oben vollgestopft mit Büchern.

Nicole Becker-Langner
Sebastian Theuner

Dass die Wut sie packt, passiere nur noch selten, sagt sie. Gut ein Jahr ist es nun her, dass ihr Lebensgefährte sich das Leben genommen hat. Der Verlust stürzte die 58-Jährige in eine Phase der Depression und Trauer. Anfangs habe sie selbst nicht mehr leben wollen.

Fausthiebe der Einsamkeit 

Aber durch therapeutische Begleitung gelang es ihr mit der Zeit, mit dem Schmerz umzugehen. Heute gehe es ihr weitestgehend gut. In manchen Momenten aber reißt die Wucht der Einsamkeit sie noch immer unvermittelt zu Boden. Als lebe in der Wohnung eine unsichtbare Schlägerbande, die alle paar Wochen auf sie drauflosprügelt.

Soziale Isolation ist so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag

Der Schicksalsschlag trifft Nicole Becker-Langner in einer Zeit, in der sich viele Menschen wegen der Corona-Pandemie einsam fühlen, wie noch nie. Das Leben ist aus den Fugen geraten, soziale Kontakte lassen sich fast nur noch per Videogespräch oder am Telefon pflegen. Persönliche Treffen sind Tabu, wo es nur geht. Der erste Lockdown wirft die Frage auf: Wie soll das gutgehen?

Ich habe ins Nichts geguckt.

Einsamkeit ist schädlich

Noch Ende April 2021 empfanden 40 Prozent der Deutschen die Auswirkungen von Corona auf die sozialen Beziehungen als beunruhigend, wie aus Zahlen des Bundesinstitutes für Risikobewertung hervorgeht. „Studien zeigen, dass soziale Isolation doppelt so schädlich wie Übergewicht ist und genauso schädlich wie 15 Zigaretten am Tag“, sagte Annegret Wolf vom Psychologischen Institut Halle gegenüber dem ZDF.

Bei Nicole Becker-Langner vermischen sich die Trauer um ihren Freund und das nie gekannte Gefühl der Einsamkeit, verstärkt noch durch die Corona-Beschränkungen, zu einer Last, die tonnenschwer auf der Seele liegt.

Nicole Becker-Langner ist eine herzliche Frau, die viel redet, auf Fragen oft ausschweifend antwortet. Die Frührentnerin braucht den persönlichen Austausch wie andere ihr Feierabendbier. Nach dem Tod ihres Partners habe sie nur noch auf dem Sofa gesessen und ins Nichts geguckt. „Keine Musik, kein Fernseher, wochenlang.“ Sie hat Rückfälle in die längst als überwunden geglaubte Bulimie. Wie löst man sich aus dieser Schockstarre in einer Zeit, in der alles Leben quasi stillsteht?

Ohne Kontrolle

Jutta Lutzi ist Psychologin
Dagmar Brunk
Jutta Lutzi

„Wenn mehrere Schicksalsschläge zusammenkommen, kann das Gefühl entstehen, ausgeliefert zu sein und keinen Einfluss auf das eigene Leben zu haben“, sagt die Diplom-Psychologin Jutta Lutzi. Sie ist Teil des Teams von „Pfarrer im Netz“, einem Beratungsangebot der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Es sei in solchen Phasen „hilfreich, Menschen um sich zu haben, die unterstützen und Verständnis dafür zeigen, dass Trauer Zeit braucht“, sagt Lutzi.

Nicole Becker-Langner
Sebastian Theuner

Doch Nicole Becker-Langner fehlen diese Menschen. Freundschaften hatte sie während ihrer Beziehung schleifen lassen. Der Lockdown im Herbst macht es ihr fast unmöglich, neue Kontakte zu knüpfen. „Normalerweise könnte ich jetzt in Selbsthilfegruppen gehen oder mich in ein Café setzen“, sagt Nicole Becker-Langner Ende des vergangenen Jahres, „aber alles ist dicht.“

Die Gespräche mit anderen haben mir das Leben gerettet.

Im Oktober begibt sie sich in eine Tagesklinik. „Das war der erste Schritt“, sagt sie heute – „die Menschen dort, die Gespräche, das hat mir das Leben gerettet.“ Gleichzeitig versucht sie, online Kontakte zu knüpfen. Eine der Gruppen, denen sie auf Facebook beitritt, heißt „Springles“. Die Mitglieder verstehen sich als spirituelle Singles.

Hilfe bekommen

Das Team von „Pfarrer im Netz“ berät zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten, zum Beispiel zur Bewältigung persönlicher Lebenskrisen. Das Angebot ist kostenlos und auf Wunsch anonym. Auch Menschen mit Suizidgedanken können sich dorthin wenden. Es ist wichtig, über die eigenen Sorgen zu sprechen. Das geht auch unter der kostenlosen Nummer der Telefonseelsorge: 0800 1110111.  

Kontaktanfragen zu stellen, habe sie viel Mut gekostet, sagt Nicole Becker-Langner. Doch sie habe sich nicht länger von der Wut und Trauer bestimmen lassen wollen. Die Überzeugung, ihren Partner eines Tages wieder zu sehen, habe ihr Halt gegeben. Und die Kraft, weiterzumachen.

„Weißt du, wie schön das ist?“

Die Frauen, die Nicole Becker-Langner heute regelmäßig zum Spazieren trifft, heißen Andrea, Pia und Ines. Sie haben sich über Facebook kennengelernt. Mit einem Iraner, der Sprachunterricht gesucht hatte, übt sie nun jeden Tag Deutsch. „Weißt du, wie schön das ist?“, fragt Becker-Langner und strahlt dabei wie ein Kind, das eben sein Lieblingseis geschenkt bekommen hat.

In Trauergruppen habe sie von Hinterbliebenen gelesen, die nach acht Jahren noch so fühlten wie am ersten Tag. Die Vorstellung machte ihr Angst. „Ich stand vor der Frage: Erzähle ich jedem meine Opfergeschichte, oder nehme ich an, was das Leben mir noch gibt?“ Auch wenn der Schmerz nie ganz verschwinde, will sie bereit sein, „meine persönlichen Grenzen zu verschieben.“

Gott als Wegweiser

Geholfen hat ihr dabei auch ihr Glaube. Zwar sei sie nicht religiös, doch ein Leben ohne Gott könne sie sich nicht vorstellen. Auch wenn sie oft gehadert habe, sei sie zu dem Schluss gekommen: „Ohne Gott ist man ohne Führung. Bei ihm ist alles in besten Händen.“