Bundestagswahl 2021

Ein "Liebesbrief" an Angela Merkel

Seba schreibt der Kanzlerin
Elza Fiuza/common Wikimedia.org
Zum Abschied von Angela Merkel

Seba ist verzweifelt: Angela Merkel steht vor ihrem Abschied. Sie erinnert ihn schon sehr an seine Mutter. In einem "Liebesbrief" nimmt er Abschied.

Mittelhessen, um 1986. Eine Mutter gibt ihren vier Jahre alten Sohn im Kindergarten ab. Die Folge: Tränen, pure Verzweiflung. Dieses Schauspiel wiederholt sich so oft, dass die Mutter irgendwann die Segel streicht - und ihren Sohn vom Kindergarten abmeldet. Die Mutter ist meine, der Sohn bin ich. Was ich mit diesem Schwank aus meiner "Jugend" zeigen will: Ich bin kein Fan davon, wenn Mutti geht!

Sebastian Jakobi
Medienhaus der EKHN
Sebastian Jakobi

Und natürlich winden sich jetzt viele bei der Bezeichnung "Mutti", wenn es um die Bundeskanzlerin geht. Verstehe ich. Immerhin sprechen wir hier von der Regierungschefin, darf man die so maternisieren? Ist Frau Merkel eine "Mutter der Nation"? Muss jeder selbst entscheiden. Ich für meinen Teil kann sagen: ja, die Frau, die seit dem 22. November 2005(!) an der Spitze der Regierung sitzt, hat für mich eindeutig mütterliche Züge (inklusive dem, dass ich sie zu selten anrufe). Das ist mir:

  1. nicht peinlich und soll
  2. auf keinen Fall als CDU-Flirt meinerseits verstanden werden.

2005 kommt "Kohls Mädchen" also an die Macht. Und easy war das nicht: der Bundestag gibt ihr damals 397 von 614 Stimmen, das waren 51 weniger als den Regierungsparteien (CDU/CSU & SPD) zur Verfügung standen.

Frau der Krisen

Es folgten die krass vielen Krisen, die Angela Dorothea Merkel (ihr kompletter Name hat by the way genauso viele Silben wie der komplette Name meiner Mama) in "ihren" 16 Jahren bewältigen musste: Finanz- und Eurokrise, Griechenlandkrise, arabischer Frühling, Ukraine-Krieg, Syrien-Krieg, Terror durch IS, Terror durch Trump, Flüchtlingskrise, Corona. Frau Merkel hat in vielen Situationen Ruhe und Beständigkeit ausgestrahlt, wie ich sie bei Politiker:innen oft genug NICHT erlebe. Meine Mama hat weder mit soziopathischen Präsidenten noch mit weltweiten Pandemien jonglieren müssen, aber sie war oft genug mit 6(!) (eigenen!) Kindern im Supermarkt. Oder hat Rasen gemäht, mit Kind auf dem Arm. Und ist, soweit mich meine Erinnerung nicht täuscht, auch allermeistens cool geblieben.

Einige Merkel-cool-bleib-Momente möchte ich hier Revue passieren lassen:

Ein Liebesbrief an Kanzlerin Merkel
CDU/Laurence Chaperon
Wir wissen nicht, wie Sebas Mutter aussieht, aber sie könnte Ähnlichkeit mit Angela Merkel haben.

18. September 2005: In der legendären "Elefantenrunde" am Abend der Bundestagswahl sieht sie sich einem marodierenden Gerhard Schröder gegenüber. Der poltert und will unbedingt Kanzler bleiben. Okay, der Vergleich mit einem auf dem Supermarktboden strampelnden Kind, das unbedingt Schokolade haben will, hinkt minimal. Parallel dazu lässt sich die „Mutti“ aber vom noch-Kanzler ebenfalls nicht aus der Ruhe bringen.

Im Februar 2009, kurz nach der Pleite der Bank Lehman Brothers, kommt das, Achtung, Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz (deutsche Sprache, schöne Sprache!). Wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, aber sehr prominent, bezeichnet Merkel eine Vorgehensweise als "alternativlos".

Für mich bedeutet dieses Wort bis heute: klar sollen und müssen wir uns als Wähler über bestimmte Sachverhalte schlau machen und müssen nicht alles schlucken, was "die da oben" entscheiden. Gleichzeitig habe ich nach wie vor Vertrauen in unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Und für mich hat "alternativlos" von Frau Merkel bedeutet: Wir haben uns angeguckt, was wir machen können, und das hier ist die beste Lösung. Ob sie damit immer Recht hatte, weiß ich nicht. Wie bei meiner Mama. Die hat mir, unter Anderem, eine relativ gesunde Balance zwischen "selber nachdenken" und "Vertrauen" mitgegeben.

9. Juni 2011:

Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.

sagte die promovierte Physikerin. Ob der Atomausstieg überhastet, gerechtfertigt, klug oder nicht war, will ich hier nicht diskutieren. Aber ich wünsche mir von einem/einer zukünftigen Kanzler/in, dass er/sie bereit ist, Althergebrachtes zu überdenken und auch zu ändern. Ein "weiter so" darf es an vielen Punkten in diesem Land nicht geben. Meine Mama ist nach rund 30 Jahren Kinder-Erziehen (wie gesagt, 5 Geschwister...) wieder in ihrem alten Job arbeiten gegangen, als Krankenschwester in einer Reha-Klinik. Weil sie nicht im Status Quo bleiben wollte.

 

2. August 2015:

Wir schaffen das.

Meine Mama hat nie entscheiden müssen, wie Deutschland mit einer Welle von Geflüchteten umgeht. Aber sie hat zum Beispiel den Migranten-Jungs, die bei uns in der Straße gespielt haben, was Süßes und nette Worte gegeben. Oder die ungarisch-stämmige Aldi-Kassiererin angesprochen und sich mit ihr angefreundet. Ich will über diesen legendären Satz "Wir schaffen das" nicht mehr schreiben als nötig - das ist schon genug passiert. Angela Merkel hat später noch gesagt:

Wenn wir jetzt anfangen, uns noch dafür entschuldigen zu müssen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.

Ich freue mich, dass Deutschland an dieser Stelle sein freundliches Gesicht zeigen konnte. Gleichzeitig, muss ich sagen: die Kanzlerin hat da nicht revolutionär oder "übermenschlich" gehandelt. In meinen Augen hat sie gehandelt, wie es ein Mensch mit Empathie und Menschenfreundlichkeit tun sollte. Wie meine Mama. Bin ich ehrlich.

Es gab noch mehr Momente, in denen UNSERE Kanzlerin (ob von mir gewählt oder nicht) ihre Frau gestanden hat. Als Wladimir Putin, der Schelm, am 21. Januar 2007 Hunde mit in einen Merkel-Termin brachte, obwohl er wusste, dass sie die nicht mag. Als Donald Trump, der orangene Schelm, ihr am 17. März 2017 trotz Kameras nicht die Hand schütteln wollte. In diesen Momenten haben diese Schelme MEINE Kanzlerin beleidigt.

Hat sie sich da aus der Ruhe bringen lassen? Garstig losgepoltert? Medial nachgetreten? Böse getwittert? Nope. Das ist nicht der Merkel-Style. Das ist DER Style, den eine Armee (oft) anonymer Social Media-Nutzer laut eigener Aussage "nicht vermissen" wird (falls es bei so menschlich vertretbaren Kommentaren bleibt).

Wir dürfen gespannt sein - auf das, was nach der Ära Raute, äh Merkel kommt. Weil: aus dem nun folgenden, eventuellen Kindergarten wird uns niemand abmelden können – wie meine Mama das dereinst bei mir gemacht hat …

 

 

 

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